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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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schnell sich Liebe in Hass verwandeln kann.“
    Anscheinend hatte auch Johann die Nase voll von dem Thema. „Redest du von deiner Scheidung, Theo?“
    Das wurde Heinz nun wohl doch zu persönlich. Er brummte etwas vor sich hin und sagte erst einmal eine Zeitlang nichts mehr.
    An seiner Stelle ergriff Trösser das Wort und erzählte von einem Hund, den er vor zwei Tagen kastriert hatte, und der seitdem das Fressen verweigerte. Es folgten weitere unerfreuliche, medizinisch ungeklärte Fälle, und Rike schwor sich, dass dies die erste und letzte Tierarztversammlung war, die sie besuchte. Sie war froh, als sich Johann gegen 24 Uhr mit ihr auf den Heimweg machte.
    Am Sonntagvormittag kroch Johann zu ihr ins Bett, kaum dass sie die Augen richtig aufg emacht hatte. Seine Hände glitten unter ihr Nachthemd und streichelten zärtlich ihren Körper, aber irgendwie kam Rike nicht so recht in Stimmung.
    Ein eher vages Gefühl von Beunruhigung schlich in ihrem Bauch umher. Es hatte etwas zu tun mit dem, was sie am Vorabend in den Tagebüchern gelesen hatte, und es hatte etwas d amit zu tun, dass Hannah und die anderen jetzt seit über 13 Wochen verschwunden waren und jeden Tag auftauchen mussten. Es war klar, dass Rike weder Zeit noch Gelegenheit haben würde, sich im Dachzimmer Informationen zu besorgen, sobald Hannah wieder ununterbrochen an ihrem Rockzipfel klebte. Das setzte sie unter Druck.
    Sie schob Johanns Hand beiseite, behauptete, sie hätte schwere Kopfschmerzen, und stand auf, um Frühstück zu machen.
    Zum Mittagessen fuhren sie in die Stadt, machten anschließend einen Schaufensterbummel und gingen ins Kino. Die ganze Zeit über zeigte sich Johann sehr rücksichtsvoll, erkundigte sich immer wieder nach ihrem Befinden und massierte ihr am Abend den angeblich völlig verspannten Nacken. Danach öffnete er eine Flasche Wein, legte ein Klavierkonzert von Prokofiev auf und setzte sich zu Rike aufs Sofa. Ohne einen weiteren Versuch zu unternehmen, sie zu verführen.
    Das schätzte sie so an ihm, sein Gespür dafür, in jeder Situation fast immer das Richtige zu tun.
    Der Montag verlief in beinah schon gewohnter Routine. Am Dienstag wurde Rike um halb sieben in der Früh von Geräuschen auf dem Flur geweckt. Gähnend stand sie auf und traf in der Küche auf Johann, der im Stehen einen Toast hinunterschlang und mit Kaffee nachspülte.
    „Ich muss weg. Notfall. Bei Bauer Schwarz haben sich zwei Hunde ineinander ve rbissen“, erklärte er kauend und lächelte sie bedauernd an. „Leg dich noch ein bisschen hin. Wenn ich bis acht nicht zurück bin, hänge bitte das Schild an die Tür.“
    Nachdem er aus dem Haus gehastet war, legte sich Rike mitnichten noch einmal ins Bett. Sie zog sich an, nahm sich Kaffee und Schokolade mit nach oben in Johanns geheimes Zimmer, holte sich das nächste Heft aus dem Schrank, ließ sich in der Ecke hinter dem Vorhang nieder und las mit Hilfe der Taschenlampe weiter.
    Nachdem sich also Distelrath erfolgreich von Elisabeth ,getrennt‘, ließ er sich 1860 in der Nachbarstadt in einer angemessenen Wohnung mit Dienstpersonal nieder. Statt einer neuen Frau holte er sich zwei Lehrer ins Haus: einen, der ihn in die Geheimnisse der Naturwissenschaften einweihen, und einen, der ihm das Klavierspielen beibringen sollte.
    Trotzdem lebte er keineswegs wie ein Mönch. Ab und zu beglückte er wohl eines seiner Dienstmädchen oder die Tochter eines Freundes oder eine Prostituierte, bevor er im Jahr 1870 im Alter von 79 Jahren (mit dem Aussehen eines Vierzigjährigen natürlich) die Kaufmann stochter Ottilie heiratete, die mit ihren 36 Jahren auch nicht mehr taufrisch, aber angeblich noch Jungfrau war.
    Was ihn an dieser Frau reizte, war wohl hauptsächlich ihre hochgeachtete, einflussreiche F amilie, von der er sich eine Einführung in die gehobenen Kreise erhoffte. Das zumindest legte die wenig schmeichelhafte Beschreibung der Frau, die er geheiratet hatte, nahe. Schon zwei Jahre später klang die Beschreibung nicht nur nicht schmeichelhaft, sondern geradezu beleidigend.
     
    3.8.1872
    Wieso gab ich mich bloß der Hoffnung hin, ich könnte Ottilies allmählich ergrauenden Kopf mit neuen Inhalten füllen? Scheint er nicht ständig mit der Zubereitung von exotischen G erichten beschäftigt zu sein, mit der Anschaffung noch schönerer Stoffe für Kleider und Vorhänge und neuerdings mit der Verführung des Ehemanns zum Zweck der Erzeugung von Nachwuchs? Da müht sie sich vergebens, aber mir soll es recht

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