Das mittlere Zimmer
klar, daß ich Elli nicht mehr helfen konnte. Einen Sturz aus dieser Höhe überlebte niemand.
Irgendwann ging ich nach Hause, ließ mir das Abendessen servieren und äußerte gegenüber dem Dienstmädchen, dass ich besorgt sei, weil meine Gemahlin noch nicht von ihrem Sp aziergang zurückgekehrt sei.
Am nächsten Tag suchte ich gemeinsam mit ein paar Freunden und Dienstboten die Wälder ab. Am übernächsten Tag führte ich sie in die Nähe des Steinbruchs, wo wir schließlich in einer Geröllhalde Ellis Leiche mit gebrochenen Gliedern und geborstenem Schädel auffa nden.
Rike reichte es. Sie klappte das Heft zu. Es war das zwölfte, das sie an diesem Abend durchgeblättert hatte. Distelrath war ein gefährlicher Mensch. Wie weit mochte er gegangen sein? Wie mochte es mit ihm geendet haben? Und was zum Teufel hatte Tierarzt Dr. Johann Wolter mit dem Haus auf der Weide zu tun?!
Rikes Verstand wollte sich gerade ein paar Theorien zurechtlegen, als das Telefon klingelte. Sie musste sich entscheiden: sollte sie sich umziehen und zu der Tierarztversammlung fa hren? Das war auf jeden Fall unverdächtiger als jede andere Verhaltensweise, und Johann würde sich freuen.
Sie nahm ab. „Ja?“
„Rike, Liebes, wie geht’s dir? Soll ich nach Hause kommen und mich ein bisschen um dich kümmern?“
„Ich hab eine bessere Idee. Ich bin in 15 Minuten bei dir, okay?“
Rike zog sich um, kämmte sich eher flüchtig die Haare und fuhr los.
Die Versam mlung der Tierärzte fand in einem der Säle im Gebäude der Stadtverwaltung statt. Vor dem Gebäude standen ein paar Raucher und grüßten Rike freundlich. Als sie durch das Foyer ging, brandete ihr Musik und Stimmenlärm durch die offenen Saaltüren entgegen, ab und zu übertönt von vielstimmigem Gelächter. Anscheinend waren alle Reden gehalten, und der gemütliche Teil des Abends hatte begonnen.
Rike betrat den Saal und sah sich um. An langen, weißgedeckten Tischen saßen um die hu ndert bis hundertfünfzig Leute, unterhielten sich, tranken und lachten. Einige liefen auch von einem Tisch zum anderen oder standen in kleinen Gruppen im Podiumsbereich beisammen.
Rike entdeckte Johanns blonden Haarschopf schnell an einem der Tische ganz links. Johann hatte ihr einen Stuhl an seiner Seite freigehalten. An seiner anderen Seite saß Tierarzt Trösser, der Rike gerade vertraulich zuwinkte. Rike winkte nicht zurück, sondern eilte auf Johann zu, setzte sich neben ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Er strahlte sie an.
„Schön, dass es dir besser geht. Was möchtest du trinken?“
Rike ließ den Blick über den Tisch wandern: hier saßen mehrheitlich Männer, die ihre Eh efrauen anscheinend zu Hause gelassen hatten, oder alle noch zu haben waren.
„Ich hätte gerne ein Mineralwasser“ , entschied sich Rike und kam sich ein wenig deplaziert vor.
Johann fing an, sie ein paar Männern, die in unmittelbarer Nachbarschaft saßen, vo rzustellen und beendete die Runde mit einem Mann ihm direkt gegenüber: „Das ist Hauptkommissar Theodor Heinz von der Mordkommission.“
Rike runzelte die Stirn. „Mordkommission? Was machen Sie hier? Ist ein Tierarzt e rmordet worden?“
Großes Gelächter rundum. Kommissar Heinz schmunzelte nur und meinte: „Nein, schließlich bin ich hier, um das zu verhindern! Die Ärzte rennen ja alle mit Skalpellen hier rum, und wenn es dann mal schwere Meinungsverschiedenheiten gibt - was glauben Sie, was da alles passieren kann.“
Seine grünblauen Augen musterten sie unverhohlen, und da sie durch die Goldran dbrille ein wenig vergrößert wurden, wirkte sein Blick gleichzeitig glotzend und irgendwie unheimlich.
„Ja, ich bin schon lange dafür, dass an den Eingängen Waffenkontrollen durchgeführt we rden“, warf Johann mit ernster Miene ein.
„Jetzt mach aber mal halblang “, meldete sich Trösser, der Schach spielende Tierarzt, und strich sich mit den Fingern über den Schnauzbart. „Für was hältst du uns - für Ärzte oder für Tiere?!“
Wieder Gelächter.
Kommissar Heinz rückte seine Brille zurecht und setzte eine Miene auf, als wolle er einen Vortrag halten. „Der Mensch ist ein Tier, und dabei bleibe ich! Das Großhirn stellt nämlich die Arbeit ein, wenn wir von Wut, Hass oder Leidenschaft überwältigt werden. Und die Hormone beherrschen uns, wie alle anderen Säugetiere auch. Und dann kommt es nicht nur zur Vermehrung, sondern auch zu Verbrechen.“
„Da redet der Fachmann für Mord und Totschlag“, stellte
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