Das mittlere Zimmer
Arbeitszimmer stellte sie die Tasse auf der grünen Schreibtischunterlage ab und überflog Distelraths Schilderung, wie Ottilie immer mehr an Gewicht verlor, wie sich ihre Haut bräunlich verfärbte, wie der Arzt einen schweren Leberschaden diagnostizierte und wie sie schließlich an den Folgen der Arsenvergiftung jämmerlich zugrunde ging. Der Arzt jedenfalls stellte die Vergiftung nicht fest, ob aus Unfähigkeit oder aus Gefälligkeit für eine kleine Spende, war auf die Schnelle nicht zu sagen.
Während also Ottilie wochenlang vor sich hinstarb, machte Distelrath der sch önen, klugen Marie aus dem Literaturzirkel den Hof. Ihr Vater war Professor und Betreiber einer Spezialklinik für Lungenkrankheiten. Und so begann sich Distelrath konsequenterweise für Medizin zu interessieren, wahrscheinlich um den Professor und seine Tochter zu beeindrucken und für sich zu gewinnen.
Im Jahr 1876 heiratete Johann seine Marie. Sie war die vierte Ehefrau.
In den nächsten Jahren absolvierte er ein Medizinstudium, das in ungefähr zehn Heften genauestens beschrieben wurde. Danach arbeitete er in der Klinik seines Schwiegervaters, der 1895 verstarb. Distelrath übernahm die Leitung der Klinik. Zufällig erfuhr Rike an dieser Stelle, dass Marie Naturwissenschaften studiert hatte und seit Jahren im Labor mitarbeitete.
1898 starb dann auch Marie und zwar an einem Darmverschluss. Distelrath, der erneut ein Vermögen erbte, war zu diesem Zeitpunkt 107 Jahre alt und vollkommen untröstlich. Er schien Marie tatsächlich geliebt zu haben, denn er übergab die Leitung der Klinik einem Ko llegen, kaufte ein Gut in der Nähe von Venedig und widmete sich ein Jahr lang der Pferdezucht und seinen schwermütigen Gedanken.
24.1.1899
Für die, die noch nicht darüber nachgedacht haben, mag es von großem Reiz sein, sich die eigene Unsterblichkeit vorzustellen.
All jenen versichere ich, es kann die Hölle sein, wenn man unter den grässlichsten Seelenqu alen leidet und nicht weiß, ob sie je enden werden. Hinzu kommt, mit ansehen zu müssen, wie die Menschen ihre kurze, kostbare Lebenszeit damit verschwenden, sich selbst und anderen Leid zuzufügen, statt sich dem zu widmen, was wirklich wichtig ist im Leben: einen wesensverwandten Menschen zu finden, den man lieben und respektieren kann, und eine sinnvolle Arbeit zu finden, die Freude und Befriedigung verschafft.
Was erlebt man stattdessen? Gier, Neid, Hass! Und wozu das alles? Um damit am Ende glücklich ins Grab zu sinken?!
Natürlich spielte ich mit dem Gedanken, all dem Elend zu entkommen und Marie in den Tod zu folgen, doch das blaue Ding lässt mich nicht. Bin ich sein Sklave? Welch furchterregender G edanke!
Rike griff zum Kaffeebecher. Der arme, alte Johann Distelrath, der genau wusste, was wichtig war im Leben. Geld und Frauen.
Sie stellte das Heft zurück in die markierte Stelle im Schrank und nahm eine Kladde ein paar Zentimeter weiter heraus. Damit ging sie zum Fenster, sah hinaus (keine Gefahr), schlug die Kladde auf und verschaffte sich einen schnellen Überblick.
Anscheinend hatte Distelrath um die Jahrhundertwende dringend eine Verjüngungskur gebraucht. Er war in sein Heimatdorf zurückgekehrt, wo die älteren Mitbürger inzwischen gestorben waren und die jüngeren nicht mehr genau wussten, wie alt Distelrath eigentlich war. Das Haus auf der Weide verkaufte er an ein Ehepaar mit zwei Kindern.
Aus welchen Gründen auch immer, er lernte die Ehefrau erst Wochen später kennen und ve rliebte sich prompt in sie. Und auf ihre Beschreibung musste Rike nicht lange warten: 31 Jahre alt, sehr attraktiv, sehr intelligent und sehr schwarzhaarig.
Dann geschah das, was schon einmal passiert war. Das Haus trieb seine Bewohner in den Wahnsinn, der Ehemann versuchte sich und seine Familie in einer Scheune zu verbrennen, und Distelrath rettete in letzter Sekunde der Ehefrau namens Isabella das Leben. Nur der Ehefrau.
Distelrath hatte sich innerhalb weniger Wochen auf Mitte Vierzig verjüngt und heiratete Is abella im Jahr 1902, nachdem diese sich monatelang in seiner Lungenklinik erholt hatte.
Rike fischte wahllos drei weitere Hefte aus der zweiten Reihe heraus und erfuhr, dass die Ehe mit Isabella lange glücklich war. Die beiden reisten durch die Welt, bis der erste Weltkrieg vor der Tür stand. Distelrath (der inzwischen lebenserfahrene 122Jährige) wusste, was zu tun war: Er brachte sich, Isabella und sein Geld in der Schweiz in Sicherheit.
Rike sah auf die Uhr: kurz
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