Das mittlere Zimmer
schwöre! Die ganze Wahrheit!
Rike kam es vor, als hätte sie mindestens eine Stunde reglos lauschend dagelegen, bevor über ihr Schritte laut wurden. Mit immer wieder angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass J ohann ins Zimmer stürmte und sie zur Rede stellte. Aber das geschah nicht.
Nach einer Weile entspannte sie sich ein wenig. Nach einer weiteren Weile, in der nichts g eschah, drehte sie sich auf die Seite, und zwei Finger fanden den Weg in ihren Mund. Sie gab sich große Mühe, an all die schönen Dinge zu denken, die sie mit Johann erlebt hatte, und an sonst nichts. Das half ihr, irgendwann einzuschlafen.
Da sie ihren Wecker nicht gestellt hatte, und Johann sie nicht weckte, wurde sie am nächsten Morgen erst gegen neun Uhr wach.
In der Küche war der Tisch für sie gedeckt, eine Thermoskanne mit Kaffee stand bereit. Rike frühstückte mit wenig Appetit und ging dann nach unten in die Praxis, um zu sehen, wie Johann auf sie reagierte. Johann reagierte so normal und natürlich, dass sie beinah dachte, sie hätte sich die Geräusche in der Nacht eingebildet. Aber wahrscheinlich hatte er einfach nichts Verdächtiges gefunden. Das Schloss in der Tür zum Dachzimmer war schließlich unversehrt, und wieso hätte er auf die Idee kommen sollen, seine zartbesaitete Ehefrau habe sich durch die Zwischenwand gesägt.
Er schenkte ihr ein zärtliches Lächeln, während er einer lautstark protestierenden, grauen Ka tze ein Thermometer in den Hintern schob. Plötzlich gelang es der Katze, ihm einen Hieb quer über den nackten Unterarm zu versetzen.
„Au verdammt!“ , fluchte Johann, und in seinen Augen flammte für zwei Sekunden unverhohlen und völlig unverhältnismäßig eine Wut auf, die unmöglich nur der Katze gelten konnte. Und Rike kam der Gedanke, dass Johann über 150 Jahre Zeit gehabt hatte, sich darin zu üben, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und anderen Menschen etwas vorzumachen. Verdächtigte er sie am Ende doch?
Aber schon lächelte er wieder, streichelte die fauchende Katze und bat Rike, ihm zu helfen. Den ganzen Tag über verhielt er sich ihr gegenüber liebevoll und fürsorglich. Rike sagte sich, dass es normal war in ihrer Situation, sich alle möglichen Sachen einzubilden.
An diesem Mittwochnachmittag (die Praxis war längst geschlossen) machte Johann auf dem Hof hinterm Haus den Rasenmäher sauber. Rike saß auf der Bank neben dem hinteren Eingang und sah ihm zu. Kurz vor fünf klingelte das Handy, das er auf der Bank abgelegt hatte.
Johann streifte die ledernen Arbeitshandschuhe ab und eilte an den Apparat. Er hörte kurz zu und sa gte: „Jetzt mach dir mal keine Sorgen, Herbert, ich bin in 15 Minuten da.“
Er setzte sich neben Rike und nahm ihre Hand. „Kann ich dich allein lassen? Auf Ne umeiers Reiterhof ist ein Pferd mit einem Kind durchgegangen, und beide sind schwer gestürzt. Ich muss mich um das Tier kümmern.“
„Mir geht’s viel besser. Ich komme alleine klar, und wenn nicht, kann ich dich ja a nrufen.“ Rike lächelte ein wenig gequält, als sei es ihr im Grunde gar nicht recht, dass er wegfuhr.
Fünf Minuten, nachdem Johanns alter Kombi das Grundstück verlassen hatte, kroch Rike b ereits durch die Öffnung in die Ecke hinter dem dunkelblauen Vorhang. In dem Moment, in dem sie die kleine Taschenlampe ausschaltete und den Vorhang anhob, überrollte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie spürte es, obwohl sie noch nicht erkennen konnte, was es war. Hatte Johann ihr eine Falle gestellt? Hatte er vielleicht kreuz und quer Fäden über den Boden gespannt?
Rike legte sich fast auf den Bauch um nachzusehen, aber am Boden war nichts. Hatte er Mi krofone installiert? Oder vielleicht eine Kamera? Minutenlang traute sich Rike kaum hinter dem Vorhang heraus. Aber dann sagte sie sich, dass sie ja heute zum letzten Mal heimlich hier oben war. Am Abend würde sie Johann sowieso alles gestehen. Und so war es völlig egal, ob er sie belauschte oder filmte!
Rike verließ die Ecke, öffnete den Schrank und zog ein Heft vom Anfang der letzten Re ihe heraus. Sie markierte die Stelle mit der Pappe, stellte sich ans Fenster und begann den Inhalt zu überfliegen.
Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte Johann angefangen, Tiermedizin zu studieren. Anscheinend hatte man ihn in seiner Heimat als unehelichen Sohn von Johann Di stelrath akzeptiert. Sein Vermögen war für Rike kaum noch überschaubar. Wie viele reiche Ehefrauen hatte er doch gleich beerbt?
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