Das mittlere Zimmer
haben, um die ungeheure Sinnlosigkeit des Universums ertragen zu können. Um den Gedanken an die erschreckende Unendlichkeit von Raum und Zeit ertragen zu können. Um ihre Ohnmacht und ihre Sterblichkeit ertragen zu können.
Verdenken kann ich es ihnen nicht. Ich kann nicht einmal den Kirchen verdenken, dass sie ihre Macht nicht aufgeben wollen. Obwohl sie Schlimmes in den Köpfen der Menschen ang erichtet haben. ,Vater im Himmel hilf mir‘, ,Vater im Himmel, vergib mir‘ - ist es nicht einfach, das ewige Kind zu sein und alle Verantwortung abzugeben? Das ist meine Sache nicht.
Und dennoch denke ich, dass es eine Hölle gibt. Die Hölle in jedem von uns. Jeder schmort in seiner eigenen, ganz individuellen Hölle, die er sich selbst geschaffen hat: eine Hölle aus Ängsten oder aus Einsamkeit oder aus unversöhnlichem Hass, aus unstillb arem Neid, aus Schuldgefühlen, die ihn auffressen.
Wie komme ich auf solche Gedanken? Das Meer, im Vordergrund von tiefem Tü rkisblau, wird in der Ferne immer blasser, bis es am Horizont mit dem Himmel zu dunstigem Hellblau verschmilzt. Boote mit leuchtend weißen Segeln sind unterwegs, der Strand weit hinten zur Rechten ist bunt vor lauter aufgespannten Sonnenschirmen.
Ich habe darüber gelesen, dass unser Gehirn, ohne dass es uns bewusst wird, Wahrnehmu ngen aussortiert und wegfiltert, dass wir gewissermaßen nur sehen, hören und fühlen, was unser Gehirn sehen, hören oder fühlen will. Wir sind ihm vollkommen ausgeliefert. Und doch, sind wir nicht noch umfassender eingeschränkt?
Zum Beispiel ist das Spektrum des Lichts, das wir sehen können, winzig im Vergleich zum gesamten Spektrum. Genauso verhält es sich mit den Tönen, die wir hören kö nnen. Und ist nicht auch unser ,freier Wille‘ eine Illusion? Handeln wir nicht alle nach bestimmten Verhaltensmustern, aus denen wir nur ganz selten ausbrechen?
Sogar mir, der ich doch so viel Zeit hatte, Erfahrungen mit mir selbst zu sammeln, fällt es schwer, in gewissen Situationen anders zu reagieren, als ich es gewöhnlich tue. Aber jetzt betrete ich mit meinen Überlegungen ein Gebiet, das mir großes U nbehagen bereitet, weil es mich daran erinnert, wie sehr ich mit meiner eigenen Wut zu kämpfen habe, die sich manchmal nicht beherrschen lässt.
Nein, genug der unzusammenhängenden, dummen Gedanken! Ich möchte diesen friedlichen, sonnigen Nachmittag genießen und einfach dankbar sein!
Später am Abend werde ich eine kleine Ausfahrt mit meinem neuen Sportwagen unternehmen, dessen bloßer Anblick wohl die eine oder andere Dame sehr beeindrucken wird. Ich bin mir sicher, dass ich das ausnutzen werde.
Ja, so war er: auf der einen Seite dachte er ernsthaft über sich und die Welt nach, auf der anderen Seite verführte er Frauen, wo sie ihm über den Weg liefen.
Und so lernte er ein paar Tage später bei einem Ausflug nach Pisa Antonia kennen, eine gut g ebaute, schwarzhaarige, temperamentvolle Italienerin, die seit Jahren Kunstgeschichte und Philosophie studierte und Johann bereitwillig nach Deutschland folgte. Sie heirateten ein halbes Jahr später, lehrten sich gegenseitig ihre Muttersprache, und Antonia kümmerte sich um Haus und Garten und Johann.
Zwei, drei Jahre ging das gut, dann wurde Antonia unzufrieden, weil sich kein Nac hwuchs einstellte. Die anfangs so leidenschaftliche Beziehung kühlte wohl rapide ab.
26.8.1954
Es hängt mir zum Hals heraus! Antonia zankt den ganzen Tag mit mir herum! Neue rdings will sie partout in meinem Schlafzimmer übernachten. Sie will wissen, warum das mittlere Zimmer abgeschlossen ist. Und der linke Dachboden. Und die anderen Räume. Sie hält sich nicht an unsere Vereinbarung, und sie wird ein böses Ende nehmen, wenn sie ihre Neugier nicht im Zaum halten kann.
An dieser Stelle hob Rike den Blick und sah beunruhigt aus dem Fenster. Ahnte Johann, dass sie genauso neugierig war? Ahnte er, wie weit sie schon in seine Geheimnisse vorgedrungen war?
Einen Moment lang war sie sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, wie es mit Antonia und ihrer Neugier ausgegangen war. Aber genau deswegen war sie doch hier! Sie las we iter.
28.8.1954
Ich kann kaum fassen, mit welcher Dreistigkeit und Gewalt diese Frau vorgegangen ist!
Gestern am frühen Abend sortierte und sterilisierte ich meine Instrumente und freute mich auf einen schönen Sommerabend im Garten, als ich plötzlich von oben einen Lärm hörte, als schlage jemand mit einem schweren Gegenstand gegen eine
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