Das mittlere Zimmer
Was für ein Schwachsinn!
Rike rollte sich auf die Seite, und wieder wurde ihr schwindlig. Verflixt, was sollte Sie nur glauben?! Wie ließ sich das alles erklären?!
Auf einmal begann i hr Verstand, auf Hochtouren zu arbeiten. Wie wäre es denn, wenn sich Johann, der alte Geheimniskrämer, einen großen Spaß daraus machte, seine Frauen zu testen? Ihre Neugier zu testen und ihre Reaktionen auf die von ihm frei erfundene, wilde Geschichte vom 200 Jahre alten Frauenmörder Johann W.? Vielleicht wusste er ja längst, dass sie auf dem Dachboden in den Heften herumschnüffelte, und lachte sich hinter ihrem Rücken über sie kaputt!
Rike begann an ihren Fingern zu lutschen. Und was für ,lustige‘ Überraschungen warteten dann in den übrigen vier verschlossenen Zimmern auf sie? Nein, da steckte etwas anderes dahinter! Denn was war mit den verschwundenen Stunden, Tagen und Wochen?! Was mit dem mysteriösen Unfalltod von Ehefrau Helga?! Was mit dem blauen Licht in ihrem Keller und dem Verbot, über all die Geschehnisse zu reden?!
Nein, das bildete sie sich nicht ein, und das war auch kein abartiger Scherz von Johann! Das war blutiger Ernst und die unfassbare Wahrheit!
Aber selbst wenn ihr Verstand zu diesem Schluss kam - ihr Herz wollte nicht folgen! Ein so liebevoller, verständnisvoller, sensibler, vernünftiger, kluger Mensch wie Johann konnte einfach kein Frauenmörder sein! Nie und nimmer! Im Gegenteil, er war vermutlich der beste Ehemann, den eine sich Frau wünschen konnte!
Und außerdem würde sie es nicht ertragen, ihn zu verlieren! Ohne ihn weiterleben zu müssen! Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Dr. Johann Wolter aus den Tagebüchern sowieso um einen entfernten Verwandten, der zufällig genauso hieß!
Blödsinn!, wisperte ein Stimmchen. Du weißt genau, dass es hier um ,deinen‘ Johann geht! Und wenn schon - das war alles so lange her, das hatte nichts mit ihr zu tun! War es nicht möglich, dass sich Johann in den letzten hundert Jahren geändert hatte? Dass er eingesehen hatte, dass man Ehefrauen nicht einfach umbrachte, wenn sie störten?
Warum konnte sie nicht ei nfach den Mund halten, so tun, als sei alles in Ordnung, und das Dachzimmer nie wieder betreten?! War sie nicht selbst schuld an ihrem Elend?! Musste sie so neugierig sein und ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angingen?!
Aber wenn das, was in den Tagebüchern stand, der Wahrheit entsprach, hatte er mindestens zwei seiner Ehefrauen umgebracht! Wann war sie an der Reihe?!
Tränen schossen in ihre Augen, und sie weinte, dass es ihr selbst das Herz erweichte. Nach einer Weile setzte sie sich auf, wischte ihre Augen ab, putzte sich die Nase und trank ein paar Schlucke Wasser.
Wenn sich Johann wirklich geändert hatte ... nun, vielleicht konnte sie ihm dann seine Missetaten von vor 100 Jahren vergeben und glücklich mit ihm weiterleben. Wenn er sich tatsächlich geändert hatte. Aber um das herauszufinden, musste sie unbedingt seine Aufzeichnungen zu Ende lesen!
Rike ließ sich zurück aufs Bett sinken. Und wenn sich dann herausstellte, dass er sich nichts mehr hatte zu Schulden kommen lassen, würde sie ihm beichten, was sie getan hatte. Sie wü rde schwören, ihn nicht zu verraten, und alles wäre wieder in Ordnung. Falls man es in Ordnung nennen konnte, dass ein über 200jähriger Mann wie Mitte Vierzig aussah, weil er von einem blauen, unbekannten Etwas ewige Jugend geschenkt bekam. Doch über dieses Thema wollte sich Rike nicht den Kopf zerbrechen. Dieses Thema beunruhigte sie im Moment am wenigsten.
Sie schloss die Augen. Ihr Magen schmerzte nicht mehr. Im Gegenteil, verspürte sie nicht so etwas wie Hunger? Das war gut, denn sie musste sich so schnell wie mö glich erholen, wenn sie die Sache beenden wollte. Solange es ihr schlecht ging, würde Johann sie kaum allein lassen. Wie sollte sie sich dann noch einmal ins Dachzimmer schleichen?
Jetzt war ihr richtig schläfrig zumute. Sie gab ihrem Bedürfnis nach Ruhe nach und fiel in einen leichten Halbschlaf, durch den beruhigende Gedanken tanzten: es wird alles gut ... Johann ist ein anderer Mensch geworden ... er liebt dich über alles, er würde dir niemals etwas antun ... alles wird gut.
Irgendwann holte ein Kuss auf die Stirn sie zurück ins Bewusstsein. Sie schlug die Augen auf und sah direkt in Johanns zärtlich lächelnde Bernsteinaugen. Zaghaft l ächelte sie zurück.
„Na Liebes, geht’s dir besser?“ Er gab ihr noch einen Kuss auf die
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