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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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Stirn.
    Rike nickte. „Bedeutend besser. Ich hab sogar wieder Appetit, was riecht denn hier so gut?“
    „Ich hab der Kranken ein Süppchen gekocht. Mit Fleisch. Damit sie schnell wieder zu Kräften kommt.“ Er nahm die Decke weg und half Rike beim Aufstehen. Sie kam sich vor, als hätte sie zwei gebrochene Beine, aber sie ließ ihn gewähren und sich in die Küche führen. Es war bereits halb sieben abends. Während sie sich an den Tisch setzte, füllte Johann aus einem Topf Rindfleischsuppe in zwei Teller.
    Sie beobachtete ihn. Im Moment wirkte er weder besorgt noch misstrauisch, sondern einfach z ufrieden. Man sah ihm kein bisschen an, wie alt er in Wirklichkeit war. Seine Bewegungen waren schnell und geschickt, auf seinem Kopf wuchs kaum ein graues Haar, seine gebräunte Haut zeigte kaum Falten, und sein gut trainierter Körper wirkte gesund und leistungsfähig. Er wusste, womit er sich in Form halten konnte, was auch nicht überraschen sollte bei einem Menschen, der seinen Körper in mehr als 200 Jahren genau kennen gelernt hatte.
    Und nicht nur den eigenen Körper, auch die Körper Dutzender Frauen, nicht nur bei einmal igen Abenteuern, die möglicherweise nur ihm selbst Spaß gebracht hatten, sondern auch in langjährigen, sehr innigen Beziehungen. Was für Erfahrungen musste er gesammelt haben! Überhaupt diese Kombination aus 200 Jahren Erfahrung und der Potenz eines viel Jüngeren! Kein Wunder, dass ihm keine Frau widerstehen konnte! Und dass er damit nicht prahlte (außer vielleicht in seinen Tagebüchern) war ein weiteres Zeichen seiner Reife und seines Einfühlungsvermögens. Er war einfach -
    Johann hob den Kopf und sah sie an, als hätte er gespürt, dass sie ihn beobachtete. Und da war es wieder in sei nen Augen - das Fremde, Wilde, das sie schon beim ersten Mal erregt hatte. Es erregte sie immer noch, aber es machte es ihr auch Angst. Schnell senkte sie den Blick und fragte sich, wie sie die Zeit bis zur endgültigen Gewissheit überstehen sollte.
    Sie fing an, ihre Suppe zu löffeln und ließ sich von Johann erzählen, was den Tag über pa ssiert war. Irgendwann glaubte sie zu spüren, dass nun Johann sie beobachtete. Sie schaute ihm ins Gesicht und ertappte ihn bei einem Blick, der schwer einzuschätzen war. Ernst, Liebe und trotzdem Distanz? Kritische Distanz?
    Prompt lächelte er unverbindlich und schlug vor, sich die Nachrichten anzusehen. Nach den Nachrichten, als sie noch auf dem Sofa saßen, spürte sie plötzlich J ohanns Finger und seine Lippen an ihrem Hals. Innerhalb von Sekunden musste sie sich entscheiden. Sollte sie ihm sagen, dass sie sich noch zu krank fühle? Er würde sie sofort in Ruhe lassen. Oder sollte sie der Verführung nachgeben, um dadurch sein Misstrauen im Keim zu ersticken?
    „Ich bin noch ziemlich schlapp“ , flüsterte sie ihm ins Ohr. „Du wirst die ganze Arbeit alleine machen müssen.“
    „Kein Problem.“ Seine Lippen wanderten in den Ausschnitt ihrer Bluse. „Du weißt doch, um dich glücklich zu machen, tue ich alles.“
    Als Rike gegen elf Uhr in ihrem Bett lag, schlief sie sofort ein, so anstrengend war der Tag für sie gewesen. Aber plötzlich, sie konnte nicht allzu lange geschlafen haben, wurde sie wieder wach, von Geräuschen, die von schräg oben zu kommen schienen. Aus dem linken Dachzimmer.
    Sofort drehte sie sich hellwach auf den Rücken. Das konnte doch nur Johann sein! Hatte sie ihn mit ihrem Verhalten so misstrauisch gemacht, dass er jetzt das Zimmer durchsuchte? Oder hielt er sich nachts regelmäßig dort oben auf, und sie hatte es nur nie mitbekommen?
    Ihr Herz schlug schneller. Was würde geschehen, wenn er das Schlupfloch in der Holzwand entdeckte?
    Für einen Moment verspürte sie den Impuls aufzustehen, nach oben zu gehen, J ohann alles zu beichten und ihn zu bitten, die restlichen Hefte in Ruhe durchlesen zu dürfen. Aber sie blieb liegen. Darauf würde er sich niemals einlassen. Er hatte einen Grund, warum er Türen abschloss.
    Rike verharrte mit angespannten Muskeln unter der Bettdecke und lauschte. Zur zeit war nichts zu hören … vielleicht leuchtete er genau in diesem Augenblick mit der Taschenlampe in die verdächtige Ecke hinein. Wenn er nur flüchtig guckte, würde er vermutlich nicht einmal etwas finden.
    Bitte , lass ihn nichts finden! Bitte, er darf jetzt nichts finden! Ich muss die letzten Hefte lesen! Ich muss Gewissheit haben! Bitte, wenn er jetzt nichts findet, werde ich ihm, sobald es geht, die Wahrheit sagen! Ich

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