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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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Gehörten ihm nicht inzwischen mindestens ein Gasthof, eine Lungenklinik, das Haus auf der Weide, das Haus in Zypern und das Haus in der Nähe von Venedig? Er musste damals mehrfacher Millionär gewesen sein ... und heute? Entweder verbarg er sein Vermögen mit Absicht, um keinen Verdacht zu erregen, oder (Rike dachte an sein schäbiges Auto) er hatte in der Zwischenzeit alles verloren.
    Sie warf einen schnellen Blick aus dem Fenster und las weiter. Anfang der dreißiger Jahre heiratete er eine Anette, die ebenfalls Tierärztin war. Sie kauften sich ein Auto und das Haus, in dem Rike zur zeit ein Zimmer bewohnte, bauten es um und richteten im Erdgeschoss eine Praxis ein.
    Rike holte sich ein neues Heft heraus und erfuhr, dass Anette kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs an einer Gehirnblutung verstarb. Johann schien seine Finger diesmal nicht im Spiel gehabt zu haben, sondern trauerte lange um seine Ehefrau. Rike sah sich in ihrer Hoffnung bestätigt, dass er sich geändert hatte.
    Zu Beginn des Krieges setzte er sich mit der Hälfte seines Geldes nach Schottland ab, wo er erst einmal in Depressionen verfiel.
     
    24.11.1939
    Warum müssen sich die Menschen gegenseitig so schlimme Dinge antun! Reichen denn die Schläge nicht, die uns Schicksal und Krankheit immer wieder versetzen?!
    Wie viele geliebte Frauen musste ich schon unter die Erde bringen! Das reißt mir j edes Mal das Herz auseinander! Soll das ewig so weitergehen? Ich ertrage es kaum noch!
     
    28.11.1939
    Das Klima hier ist grässlich! Und ich werde wieder älter und die Feuchtigkeit greift mir die Knie an, und die Kälte schmerzt mir im Rücken.
    Wie viele Male schon musste ich mit dem Alter kämpfen! Und mit der Angst, dieses Mal ließe sich nichts mehr rückgängig machen, dieses Mal würde ich unaufhaltsam älter und hinfälliger werden, so wie alle anderen Menschen auch! Das treibt mich manchmal an den Rand des Wahnsinns! Das und die unvorstellbare Einsamkeit!
    Ich spiele mit dem Gedanken, nach New York zu gehen. Allein die Energie fehlt mir. Vie lleicht hält mich auch das blaue Ding zurück, das ich von nun an ,Isis‘ nennen werde, wie Isis, die Göttin, die ihren toten Mann ins Leben zurückgeholt hat.
    Die Vorstellung, das blaue Ding sei weiblich, gefällt mir. Obwohl ich natürlich weiß, dass es ein Wesen jenseits aller Geschlechtlichkeit, jenseits aller Moral, jenseits aller Menschlichkeit ist.
     
    Rike verspürte ein wenig Mitleid mit ihm. Über all die Nachteile seiner Situation hatte sie noch nie nac hgedacht. Wer ewig lebte, verlor einen geliebten Menschen nach dem anderen. Wie schrecklich!
    Sie ging zum Schrank, schob das Heft an seinen Platz und zog eine Kladde aus der Mitte der untersten Reihe. Sie stellte sich ans Fenster, schlug die Kladde auf und befand sich im Jahr 1951.
    Johann war mittlerweile 160 Jahre alt, sah aber wieder einmal aus wie Anfang Vierzig und fuhr im Sommer alleine nach Italien. Er machte Urlaub in einem kleinen Dorf in der Nähe von Livorno, und zwar mit dem teuren Wagen, den er sich nach dem Krieg angeschafft haben musste.
     
    22.07.1951
    Ich sitze ein wenig außerhalb des Hotels auf einer Bank in einem schattigen Olive nhain, der auf einer sanften Anhöhe gelegen ist. Von hier hat man einen unbeschreiblichen Blick aufs Meer hinaus.
    Es ist heiß, der Himmel wolkenlos und es duftet nach Salzwasser und wilden Rosen. Kein Mensch weit und breit. Ach, was geht es mir gut zur zeit! Mein Körper hat nach und nach alle Gebrechen abgeworfen, die mit dem Alter so oft einhergehen. Die Knie schmerzen nicht, mein Blutdruck ist normal, ich kann einen Berg besteigen, ohne in Luftnot zu geraten, und sogar meine Prostata belästigt mich nicht mehr.
    Und schon empfinde ich Mitgefühl für all die Menschen, die unter solchen Beschwe rden und noch schlimmeren Übeln zu leiden haben. Ja, das menschliche Dasein ist eine Aneinanderreihung von Leid. Und niemand kann ihm entrinnen. Hat man deshalb schon immer das Leid verklärt? Hat man auf diese Weise versucht, ihm einen Sinn zu geben? Aber wird Leid dadurch sinnvoll, dass man Leidensfähigkeit zur frommen, edlen Charaktereigenschaft hochstilisiert?
    Ich jedenfalls bin dankbar, dass ich nicht leiden muss. Nur weiß ich nicht, wem ich dafür danken soll. Ich kann nicht mehr an einen Gott glauben, denn alles, was ich in den vielen Jahrzehnten, die ich auf dieser Erde weile, über die Menschen gelernt habe, spricht nur d afür, dass sie Gott in ihrer Verzweiflung selbst erfunden

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