Das mittlere Zimmer
Eimer oder so was! Schnell, schnell!“
Rike sprang auf, lief zur Abstellkammer, holte den Eimer, aber bereits auf dem Rückweg hörte sie, dass sie zu spät kommen würde. Johann hatte die Reste seines Frühstücks sowie eine Menge weißlichen Schleims auf den Teppichboden gewürgt.
Sie machte sauber, versorgte Johann mit einem Heizkissen für seinen schmerze nden Magen und schlug zum zweiten Mal vor, den Notarzt zu rufen. Er reagierte wie erwartet. „Ach was, das ist bloß eine Virusinfektion. Dagegen kann man sowieso nichts tun ... und mir geht es auch schon ein bisschen besser.“
Rike widersprach nicht, obwohl er wieder wirkte wie kurz vor dem Koma: schneeweiß, schweißüberströmt, kurzatmig, schwach und zittrig.
„Wenn du meinst.“ Rike lächelte sanft. „Dann schlaf halt noch ein bisschen. Und nachher mache ich dir eine kräftige Fleischsuppe. Was hältst du davon?“
„Weiß noch nicht“ , murmelte er, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.
Rike ließ ihn schlafen. Vor der Tagesschau, kurz vor acht, setzte sie sich für ein paar Minuten so hin, dass sie ihn beobachten konnte. Seine blonden Haare klebten feucht und zerzaust an seinem Hinterkopf, sein Gesicht war genauso schneeweiß wie seine Hä nde, die schlaff über die Sofakante nach unten hingen. Dieser Anblick löste weder Mitleid noch Befriedigung in ihr aus, sondern wieder nur Hass. Da lag der Unmensch, der ihre Tochter und ihre Eltern hatte sterben lassen! Leiden sollte er, als sei er schon jetzt in der Hölle!
Aber bekam er überhaupt mit, wie schlecht es ihm ging?! Er litt ja gar nicht! Das lief falsch, sie durfte ihm das Gift nicht so oft verabreichen, zweimal am Tag war zu viel, denn wenn sie so weitermachte, war er übermorgen vermutlich tot. Rike holte ein paar Flaschen Mineralwasser aus der Kammer und weckte Johann.
„Hallo, mein Schatz, wie geht’s dir? Ich finde, du solltest in deinem Bett weiterschl afen, sonst tun dir morgen auch noch sämtliche Knochen weh“, empfahl sie im Ton mütterlicher Fürsorge.
Johanns Blick wirkte einigermaßen desorientiert. Er schien gar nicht richtig zu sich zu ko mmen. Rike legte ihm eine Hand auf die Stirn. Sie war kalt und feucht. „Magst du was essen?“
Johann schüttelte langsam den Kopf.
„Dann solltest du wenigstens viel trinken.“ Rike hielt ihm ein Glas Wasser hin.
Johann nickte und richtete sich mühsam auf, so mühsam, als sei er am Ende se iner Kräfte. Sie drängte ihm zwei Gläser Wasser auf, die er mit Pausen, aber folgsam zu sich nahm, und Rike wiederholte: „Ich werde dich jetzt in dein Zimmer bringen, damit du dich gesundschlafen kannst. Wo ist der Schlüssel?“
Johann sah auf und sah sie eine ganze Weile mit einem eigenartig verschleierten Blick an, in dem jetzt (oder bildete sie sich das ein?) eine Spur Misstrauen aufflackerte. Hatte sie einen Fehler gemacht? So selbstverständlich, wie es nur ging, schlug sie die Decke zurück und fas ste an Johanns Hosentaschen. Nein, da waren keine Schlüssel.
„Ich möchte vorher versuchen , was zu essen. Sieh doch mal nach, ob wir noch Zwieback haben“, hauchte Johann und legte sich nach diesen Worten erschöpft zurück.
Rike brauchte ein paar Minuten, um den Zwieback zu finden. Als sie ins Wohnzi mmer kam, saß Johann aufrecht auf dem Sofa und trank noch ein Glas Wasser. Die dunklen Ringe unter den Augen ließen ihn ernsthaft krank aussehen. Er schaffte es, einen Zwieback zu essen, dann wollte er in sein Bett.
Rike half ihm aufzustehen und stellte fest, dass er durchaus in der Lage war zu gehen. Er wirkte ein wenig unsicher auf den Beinen und stützte sich schwer auf ihren Arm. Nach den paar Metern bis zur Schlafzimmertür atmete er laut und heftig durch den offenen Mund.
„Und wo ist nun der Schlüssel?“, fragte Rike ein zweites Mal auf eine Weise, als sei es ihr eher unangenehm, Johanns Schlafzimmer zum ersten Mal zu Gesicht zu bekommen.
„In meiner rechten Hosentasche “, keuchte Johann und hielt sich wieder mit einer Hand am Türrahmen fest.
Rike griff in die Hosentasche und holte einen einfachen, normalen Zimmerschlüssel hervor. Wie war das möglich? Wo doch vor fünf Minuten ganz sicher nichts in der Tasche gewesen war! Ob er den Schlüssel, wie die anderen auch, im Wohnzimmer versteckt hatte?! Im Woh nzimmer, das sie doch von oben bis unten, von rechts nach links abgesucht hatte?!
Mit nicht ganz ruhiger Hand steckte sie den Schlüssel ins Schloss und fragte sich, welcher Anblick sie
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