Das mittlere Zimmer
Abstecher zu ihrem ehemaligen Heim. Der Anblick der G arage rief einen Hass in ihr wach, dass sie am liebsten zurückgefahren und Johann das Medikament mitsamt der Flasche in den Hals gestopft hätte. Um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, marschierte sie schimpfend und weinend ein Stück durch den Wald, trat mehrmals kräftig gegen Baumstämme oder nahm größere Steine vom Boden auf und schleuderte sie wütend ins Gebüsch. Anschließend fühlte sie sich in der Lage, im Supermarkt einzukaufen.
Als sie wieder nach Hause fuhr, erwartete sie, dass das Gift inzwischen mehr Wirkung zei gte als vorhin. Johann lag bleich auf der Couch und sah Rike schläfrig an. Im Fernseher lief eine Talkshow mit stark heruntergedrehtem Ton.
„Ich hab dir dein Eis mitgebracht. Soll ich dir eins holen?“
„Jetzt nicht ... ich hab Magenschmerzen.“ Johann lächelte kurz und leidend.
„Soll ich nicht langsam mal einen Arzt kommen lassen?“ Rike gab sich autoritär besorgt, aber Johann lehnte immer noch jede professionelle Hilfe ab. Umso be sser. „Wie du willst. Aber ich mach mir jetzt was zu essen.“ Rike fühlte sich noch ein wenig mehr irritiert: sterbenskrank wirkte der Mann nicht. In der Küche schob sie eine Pizza in den Backofen und blätterte in der Tageszeitung, nach der Johann auch noch nicht verlangt hatte.
Zwischendurch fiel ihr Blick auf ein paar Brotkrümel auf der Arbeitsplatte, die sie nachher noch entfernen musste - und da stutzte sie. Brotkrümel? Bevor sie gefahren war, hatte sie die ganze Küche blitzblank in Ordnung gebracht! Hundertprozentig war nirgendwo mehr ein ei nziger Krümel zu sehen gewesen!
Sie sah sofort eine Szene vor sich: wie Johann, dem es gar nicht mehr so schlecht ging, wie er tat, in die Küche geschlichen war, sich Brote geschmiert und gegessen, sich dann wieder aufs Sofa gelegt hatte und ihr nun den Schwerkranken vorspielte. Wenn das zutraf, hatte er Verdacht geschöpft. Wenn er Verdacht geschöpft hatte, hatte er möglicherweise das Gift heute Morgen gar nicht genommen!
Rike wusste nicht, ob ihr zuerst heiß oder zuerst kalt wurde. Jedenfalls wurde ihr heiß und kalt und ehe sie sich versehen hatte, steckten zwei ihrer Finger in ihrem Mund.
Hatte er nur Verdacht geschöpft, oder war er sich sicher, dass sie ihn vergiften wollte? Wenn er sich sicher gewesen wäre, hätte er ihr nichts mehr vorspielen müssen. Wie sollte sie jetzt reagieren? Sie würde ihm nachher ein zweites Glas mit dem Medikament bringen und so lange neben ihm sitzen bleiben, bis sie mit eigenen Augen sah, dass er es leer trank!
„Rike, ich hätte jetzt gerne ein Eis!“ , erklang es aus dem Wohnzimmer.
Sie zuckte zusammen, ihre Finger rutschten mit einem Schmatzlaut aus dem Mund. Sie sprang auf und brachte ihm das Eis. Dann setzte sie sich auf das linke Sofa und sah zu, wie er die Eiscremefolie entfernte, wie er ein Stück nach dem anderen von dem mit Nus sschokolade umhüllten Eis abbiss und sich jedes Stück genüsslich auf der Zunge zergehen ließ. Ob sein Magen das verkraftete?
„Ich mache mir jetzt einen Kaffee. Möchtest du auch einen?“ Rike stand auf und nahm das benutzte Glas vom Tisch.
„Nein, ich bleibe erst mal beim Wasser.“ Er sah sie nicht an, sondern verfolgte die Reportage über Rennpferde, die er bei irgendeinem Sender gefunden hatte.
Ein paar Minuten später saß Rike wieder auf ihrem Sofa, mit einer Tasse Kaffee und der Ze itung vor sich, und schenkte Wasser aus einer Flasche in das neue, präparierte Glas, das sie vor Johann abgestellt hatte. Sie würde nicht eher das Zimmer verlassen, bis das Glas leer war.
Johann verfolgte seine Pferdesendung und redete so gut wie gar nicht. Rike vertiefte sich in die Zeitung. Eine Stunde verging. Johann trank nichts, sondern suchte sich ein Programm, in dem ein alter Krimi lief. Rike sah eine Zeitlang zu, aber allmählich hatte sie das Bedürfnis, zur Toilette zu gehen. Johann rührte das Glas nicht an.
Im Laufe des Nachmittags klingelte mehrmals sein eingeschaltetes Handy. Tierbesitzer erkundigten sich nach seinem Befinden und holten sich gleich noch einen kostenlosen tierärztlichen Rat ein.
Eine weitere Stunde verging. Rike glaubte, ihre Blase müsse jeden Moment platzen. Johann sah sich eine Quizsendung an und ignorierte das Wasserglas. Eine ha lbe Stunde später hielt Rike es nicht mehr aus. Sie ging zur Toilette, und als sie zurückkam, war (genau!) das Glas leer!
Sie ärgerte sich maßlos. Hatte er das Wasser nun getrunken oder
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