Das mittlere Zimmer
Johann war, stand für sie außer Frage. Was wol lte er ihr antun? Sie im Schlaf erwürgen? Ihr das Kopfkissen aufs Gesicht drücken? Ihr das Medikament spritzen, mit dem er sonst kranke Tiere einschläferte?
Als Johann merkte, dass die Tür abgeschlossen war, bewegte sich die Klinke langsam wieder aufwärts. Was jetzt? Würde er die Tür eintreten? Aber anscheinend hatte er andere Pläne, denn erst einmal hörte sie nichts mehr. Ihr Herz raste. Nach fünf Minuten fragte sie sich, ob Johann wirklich noch hinter der Tür stand, oder ob er sich nicht längst in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Nach weiteren zehn Minuten merkte sie endlich, dass ihre Füße eiskalt waren, und dass sie erbärmlich fror.
Also legte auch sie sich wieder ins Bett. Aber an Schlaf brauchte sie vorerst nicht zu denken. Sie lag mit offenen Augen da und stellte sich vor, was passiert wäre, wenn sie nicht aufg ewacht wäre und die Tür abgeschlossen hätte.
Ihre Phantasie malte sich eben die schlimmsten Dinge aus, die Johann mit ihr hätte machen können, als ihr plötzlich wieder ein ganz anderer Gedanke dazwischenfunkte: auch das war ein Zeichen gewesen! Irgendetwas hatte sie zur richtigen Zeit au fwachen lassen! Irgendetwas hatte ihr eingegeben, die Tür rechtzeitig zu verschließen! Das war ein Zeichen, dass er ihr nichts antun konnte, weil sie ihm immer einen Schritt voraus war!
Nach dieser Erkenntnis lag sie noch eine Weile wach und sann über eine Lösung nach, wie sie Johann beseitigen konnte. Im Morge ngrauen schlief sie endlich ein.
Kurz nach halb acht wachte sie auf. Sofort erinnerte sie sich an alles, was am Vortag und in der Nacht passiert war. Sie wussten jetzt übereinander B escheid. Nun ging es nur noch darum, wer wen zuerst umbrachte.
D er Gedanke hätte sie zutiefst erschrecken müssen. Welche Chance hatte sie gegen einen mit allen Wassern gewaschenen Frauenmörder? Aber sie war ja nicht allein, sie hatte Hilfe, weil sie einen Auftrag hatte, und in gewisser Weise beruhigte sie das. Rike setzte sich im Bett auf. Hatte Johann schon Frühstück gemacht? Würde er versuchen, sie zu vergiften? Er wusste, dass sie damit rechnete, also würde er es möglicherweise nicht tun.
Sie stand auf, zog den Morgenmantel über, schloss die Zimmertür auf und trat auf den Flur. Fast wäre sie mit Johann zusammengestoßen, der von rechts aus seinem Schlafzimmer kam. Er schien genauso erschrocken zu sein wie sie. Erschrocken, weil er nicht wusste, wie er re agieren sollte. Sie sah die Feindseligkeit und die Wut in seinen Augen, und eigentlich hätte er Rike packen und ihr gleich hier und jetzt das Genick brechen können. Aber vielleicht fürchtete er, diese Todesart sei zu verdächtig.
„Guten Morgen, Liebes“ , säuselte er plötzlich und küsste sie mit abgewandtem Blick auf die Wange. „Mir geht’s wieder deutlich besser. Und wie hast du geschlafen?“
Er war bereits komplett angezogen, aber roch er nicht noch ein klein wenig nach Er brochenem? Rike spielte sein Spiel mit. „Ich hab gestern Abend ein bisschen Rotwein getrunken und durchgeschlafen wie ein Stein.“
Johann antwortete nicht darauf, sondern ging an ihr vorbei in die Küche. Rike hinterher.
Und dann folgte das eigenartigste, um nicht zu sagen , das gruseligste Frühstück ihres ganzen Lebens. Was auch immer sie taten, jeder sah dem anderen permanent über die Schulter und auf die Finger, so dass keiner unbemerkt Gift in den Kaffee, die Milch, die Marmelade oder was auch immer hätte füllen können. Sie umtänzelten einander wie Hunde, die bereit waren zuzubeißen, wenn einer eine falsche Bewegung machte.
Schließlich saßen sie sich am Tisch gegenüber und sagten nicht viel. Johann rührte des Öfteren schweigend und gedankenverloren in seiner Kaffeetasse, während Rike versuchte, wenigstens eine halbe Scheibe Brot mit Marmelade zu sich zu nehmen. Sie hatte überhaupt keinen Appetit. Die Anspannung und nicht zuletzt ein rasender Hass, der immer wieder in ihr emporschoss wie ein kochender Geysir, schnürten ihr den Magen zu.
Gerade hatte sie ihre zweite Tasse Kaffee getrunken, als es unten an der Hau stür klingelte. Der erste Patient für die Samstagssprechstunde.
Eine gewisse Erleichterung geisterte plötzlich durch den Raum. Johann stand auf und mei nte fast beiläufig, so, als sei dies ein ganz normaler Tag: „Ich mache gegen zehn, halb elf Schluss. Dann können wir einkaufen fahren.“ Er sah Rike dabei nicht an, sondern leerte seine Tasse, stellte sie ab
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