Das mohnrote Meer - Roman
fleischigen Wangen und Lippen wie Leberschnitten sah sein Gesicht aus wie frisch vom Schlachter. Hinter ihm stand ein Grüppchen Träger und Laskaren mit diversen Kisten, Schrankkoffern und anderem Gepäck.
»Hat denn keiner von euch Hundsfotten einen Funken Verstand?« Die Adern schwollen auf der Stirn des Lotsen, während er die wie gebannt dastehende Mannschaft anbrüllte: »Wo ist der Steuermann? Habt ihr Schafsköpfe ihm nicht gesagt, dass mein Boot längsseit liegt? Steht nicht bloß da und glotzt blöde! Dalli, dalli, oder muss ich euch mit meinem Stock den Steiß bläuen, bis ihr Allah um Hilfe ruft?«
»Bitte sehr um Entschuldigung, Sir«, sagte Zachary und trat vor. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten.«
Der Lotse kniff missbilligend die Augen zusammen, als er Zacharys zerknitterte Kleidung und seine nackten Füße sah. »Ich trau meinen Klüsen nicht, Mann!«, sagte er. »Sie lassen sich ja ganz schön gehen. Sollten Sie nicht tun, wenn Sie der einzige Sahib an Bord sind – außer, Sie wollen sich zum Gespött Ihrer Nigger machen.«
»Tut mir leid, Sir … bin nur ein bisschen durcheinander.« Zachary streckte ihm die Hand hin. »Ich bin der Zweite Steuermann, Zachary Reid.«
»Und ich bin James Doughty«, sagte der Neuankömmling und schüttelte Zachary widerstrebend die Hand. »Früher mal Bengal River Pilot Service, zurzeit Lotse und Supercargo in Diensten von Burnham Bros. Der Bara Sahib – will sagen Ben Burnham – hat mich gebeten, das Kommando auf diesem Schiff zu übernehmen.« Er winkte lässig zu dem Mann am Ruder hinüber. »Das da ist mein Rudergänger; weiß genau, was er tut – könnte Sie mit verbundenen Augen den Brahmaputra raufbugsieren. Wie wär’s: Wollen wir das Steuern diesem Halunken überlassen und uns einen Schluck Rotspon genehmigen?«
»Rotspon?« Zachary kratzte sich am Kinn. »Tut mir leid, Mr. Doughty, aber ich weiß nicht, was das ist.«
»Rotwein, mein Junge«, sagte der Lotse aufgeräumt. »Sie haben nicht zufällig einen Schluck Bordeaux an Bord? Wenn nicht, dann tut’s auch ein Gläschen Brandy.«
ZWEITES KAPITEL
Z wei Tage später, als Diti und ihre Tochter gerade zu Mittag aßen, hielt Chandan Singh mit seinem Ochsenkarren vor ihrer Tür. »Kabutri- kī-mā! «, rief er. »Hör zu: Hukam Singh ist in der Fabrik zusammengeklappt. Du sollst ihn dort abholen.«
Damit ließ er die Zügel schnalzen und fuhr eilig davon, voller Ungeduld, zu seinem Essen und seinem Mittagsschlaf zu kommen. Hilfe bot er nicht an – typisch für ihn.
Ein Frösteln kroch Diti den Nacken hinauf. Nicht dass die Nachricht sie allzu sehr überrascht hätte; ihr Mann kränkelte seit Längerem, und sein Zusammenbruch kam nicht ganz unerwartet. Aber sie war sich sicher, dass diese Wendung der Dinge irgendwie mit dem Schiff zusammenhing, das sie gesehen hatte. Es war, als hätte ihr der Wind, der es zu ihr trug, einen kalten Hauch das Rückgrat hinaufgesandt.
»Ma?«, sagte Kabutri. »Was machen wir jetzt? Wie sollen wir ihn denn holen?«
»Wir brauchen Kaluas Ochsenkarren«, antwortete Diti. »Komm, wir gehen.«
Bis zu der Chamaren-Siedlung, in der Kalua lebte, war es nicht weit, und nachmittags um diese Zeit musste er auch zu Hause sein. Nur würde er wahrscheinlich eine Bezahlung erwarten, und Diti wusste beim besten Willen nicht, was sie ihm anbieten sollte. Überschüssiges Getreide oder Obst hatte sie nicht, und an Geld war nicht eine einzige Kaurischnecke im
Haus. Nachdem sie alle Möglichkeiten durchgegangen war, musste sie einsehen, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als an die holzgeschnitzte Kassette zu gehen, in der ihr Mann seinen Opiumvorrat aufbewahrte. Sie war verschlossen, aber Diti wusste, wo der Schlüssel lag. Sie öffnete den Deckel und war erleichtert, mehrere Klumpen hartes akbarī -Opium und auch ein größeres Stück weiches chandū -Opium vorzufinden, noch in Mohnblütenblätter verpackt. Sie entschied sich für das harte Opium, schnitt ein daumennagelgroßes Stück davon ab und wickelte es in eine der Hüllen, die sie am Morgen angefertigt hatte. Sie steckte das Päckchen in die Taille ihres Saris und machte sich dann in Richtung Ghazipur auf den Weg. Kabutri lief voraus und hüpfte über die Erdwälle zwischen den Mohnfeldern.
Die Sonne hatte den Zenith inzwischen überschritten, und in der warmen Nachmittagsluft hing flirrender Dunst über den Blüten. Diti zog sich den ghūnghat ihres Saris über das Gesicht; der ausgebleichte dünne Stoff war
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