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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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roch nach nassem Stroh und erinnerte entfernt an den starken, erdigen Duft eines frisch gedeckten Dachs nach einem Regenschauer. Dieses Jahr würde sie, wenn es eine gute Ernte gab, den gesamten Erlös für die Reparatur des Dachs verwenden, sonst würde der Regen zerstören, was davon noch übrig war.
    »Weißt du«, sagte sie zu Kabutri, »dass es schon sieben Jahre her ist, seit unser Dach zuletzt neu gedeckt worden ist?«
    Das Mädchen richtete seine sanften, dunklen Augen auf die Mutter. »Sieben Jahre? Hast du nicht vor sieben Jahren geheiratet?«
    Diti nickte und drückte Kabutris Hand. »Ja. Das war …«
    Das neue Strohdach hatte ihr Vater bezahlt, als Teil ihrer Mitgift. Er tat sich schwer damit, das Geld aufzubringen, aber er hatte sich nicht beklagt, denn Diti war das letzte seiner Kinder, das verheiratet werden musste. Ihre Aussichten hatten immer unter einem ungünstigen Stern gestanden; Saturn herrschte über ihr Schicksal, ein Planet, der große Macht über jene ausübte, die unter seinem Einfluss geboren wurden, und der oft Zwietracht und Elend brachte. Dieser Schatten hatte Ditis Zukunft verdunkelt, und sie hatte deshalb nie hohe Erwartungen gehegt: Sie wusste, dass man sie, wenn überhaupt, wahrscheinlich mit einem sehr viel älteren Mann verheiraten würde, einem Witwer vielleicht, der eine Mutter für seine Kinder brauchte. Doch Hukam Singh schien ein vergleichsweise guter Kandidat zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil Ditis Bruder Kesri Singh die Verbindung vorgeschlagen hatte. Die beiden Männer hatten demselben Bataillon angehört und in mehreren Feldzügen in Übersee gemeinsam gedient. Kesri Singh hatte seiner Schwester sein Wort darauf gegeben, dass die Behinderung ihres zukünftigen Ehemannes nicht weiter
ins Gewicht falle. Für Hukam Singh sprachen auch die Beziehungen seiner Familie, vor allem zu einem Onkel, der in der Armee der Ostindien-Kompanie bis zum Rang eines Subedars aufgestiegen war. Nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst hatte er eine lukrative Anstellung in einem Handelshaus in Kalkutta gefunden und dann seinen Verwandten gute Posten zugeschanzt. Hukam Singh beispielsweise, dem angehenden Bräutigam, hatte er einen der begehrten Arbeitsplätze in der Opiumfabrik verschafft.
    Als die Eheanbahnung ins nächste Stadium eintrat, stellte sich heraus, dass der Onkel die treibende Kraft hinter dem Plan war. Er fungierte nicht nur als Sprecher der Verwandten, die sich bei Ditis Vater versammelten, um die Einzelheiten zu regeln, er führte auch die Verhandlungen für den Bräutigam, und als die Gespräche den Punkt erreicht hatten, an dem Diti eintreten und ihren ghūnghat abnehmen musste, enthüllte sie ihr Gesicht nicht dem Bräutigam, sondern dem Onkel.
    Dass der Onkel eine beeindruckende Erscheinung war, ließ sich nicht leugnen. Seine Name war Subedar Bhairo Singh, er war Mitte fünfzig und hatte einen üppigen weißen Schnauzbart, dessen Spitzen sich bis zu den Ohrläppchen aufbogen. Sein Gesicht war hell und rosig, beeinträchtigt nur durch eine Narbe, die sich über die linke Wange zog. Seinen Turban, so makellos weiß wie sein Dhoti, trug er mit einer lässigen Arroganz, die ihn doppelt so hochgewachsen erscheinen ließ wie andere Männer seiner Größe. Seine Kraft und Vitalität zeigten sich in seinem Stiernacken ebenso wie in den schwellenden Konturen seines Bauchs, denn er gehörte zu jenen Männern, bei denen ein Bauch nicht etwa überflüssiges Gewicht ist, sondern vielmehr ein Hort der Stärke und Energie.
    So raumfüllend war der Subedar, dass der Bräutigam und seine Familie neben ihm angenehm bescheiden wirkten, was
in nicht geringem Maße dazu beitrug, dass Diti der Verbindung zustimmte. Durch einen Spalt in der Wand musterte sie die Besucher eingehend, während die Verhandlungen im Gange waren. Die Mutter mochte sie nicht besonders, doch sie flößte ihr auch keine Furcht ein. Gegen den jüngeren Bruder aber fasste sie vom ersten Augenblick an eine Abneigung. Er war jedoch nichts weiter als ein farbloser, schmächtiger junger Mann, über den sie sich allenfalls hin und wieder ein wenig ärgern würde. An Hukam Singh selbst beeindruckte sie die soldatische Haltung, die durch sein Hinken eher noch betont wurde. Noch besser gefielen ihr seine stille, fast schläfrige Art und seine langsame Sprechweise. Er schien ein friedfertiger Mensch zu sein, ein Mann, der seine Arbeit tat und keinen Ärger machte – nicht die schlechteste Eigenschaft für einen

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