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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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so zerschlissen, dass sie hindurchschauen konnte. Die Umrisse der Dinge, die sie sah, verschwammen, um die prallen Mohnkapseln erschien ein blassroter Hof. Ihre Schritte wurden länger. Auf einigen Feldern war der Mohn schon ein gutes Stück weiter als ihrer. Die Kapseln waren bereits angeritzt, und um die parallelen Einschnitte herum gerann der ausgetretene weiße Saft. Sein süßer, betäubender Duft hatte Schwärme von Insekten angelockt, und die Luft summte von Bienen, Heuschrecken und Wespen. Viele würden in dem Saft hängen bleiben, und morgen, wenn er sich verfärbt hatte, würde die schwarze Masse sie einschließen – bei der Ernte ein willkommener Zuwachs an Gewicht. Selbst auf die Schmetterlinge schien der Saft eine beruhigende Wirkung auszuüben, denn ihr Flügelschlag wurde seltsam unstet, als hätten sie das Fliegen verlernt. Einer von
als sie ihn in die Luft warf.
    »Er träumt, siehst du?«, sagte Diti. »Das bedeutet, dass die Ernte dieses Jahr gut wird. Vielleicht können wir sogar unser Dach reparieren.«
    Sie blieb stehen und schaute zu ihrer Hütte zurück, die in der Ferne gerade noch zu erkennen war. Sie sah aus wie ein winziges Floß auf einem Fluss aus Mohnblumen. Das Dach musste dringend ausgebessert werden, aber Stroh war in diesem Zeitalter der Blumen nicht leicht zu bekommen. Früher hatte im Winter der Weizen hoch auf den Feldern gestanden, und nach der Frühjahrsernte hatte man mit dem Stroh die Schäden des Vorjahres behoben. Doch seit die Sahibs jedermann zwangen, Mohn anzubauen, hatte niemand mehr Stroh übrig, und man musste es auf dem Markt kaufen, von Leuten, die in weit entfernten Dörfern lebten. Die Kosten waren so hoch, dass man Reparaturen möglichst lange aufschob.
    Als Diti so alt war wie ihre Tochter jetzt, war es anders gewesen. Mohnblumen waren damals ein Luxus gewesen, und man hatte sie nur in geringen Mengen angepflanzt, zwischen den Feldern mit den Hauptwinterfrüchten – Weizen, braunen Linsen und Gemüse. Ihre Mutter hatte einen Teil der Mohnsamen an die Ölpresse geschickt, den Rest hatte sie behalten, teils zur Neuaussaat, teils zum Kochen mit Fleisch und Gemüse. Aus dem Saft wurden Verunreinigungen herausgesiebt, dann ließ man ihn eintrocknen, bis die Sonne harte akbarī-afī daraus gemacht hatte. Damals war es niemandem in den Sinn gekommen, das feuchte, sirupartige chandū -Opium herzustellen, das in der englischen Fabrik gewonnen und abgepackt wurde, um dann mit Schiffen übers Meer geschickt zu werden.

    In früheren Zeiten hatten die Bauern einen kleinen Teil ihres selbst gemachten Opiums für die Familie behalten, als Medizin oder für die Ernte und Hochzeiten. Damals hatten ein paar Klumpen für den Bedarf eines Haushalts ausgereicht. Was übrig blieb, hatten man an die Adeligen der Gegend oder an Flusshändler aus Patna verkauft. Niemand war daran interessiert, mehr anzubauen; der Aufwand war zu groß. Die Erde musste fünfzehn Mal umgepflügt, verbleibende Schollen mussten von Hand zerkleinert werden, Zäune und Wälle mussten gebaut werden, Dünger musste gekauft und die Pflanzen mussten ständig bewässert werden. Und dann die aufreibende Ernte: Jede Kapsel musste einzeln angeritzt, der ausgetretene Saft abgeschabt werden. Doch die Strapazen blieben erträglich, solange man nur auf einer oder zwei kleinen Flächen Mohn anbaute – und welcher vernünftige Mensch hätte ein Vielfaches an Mühen auf sich genommen, da es doch bessere, nützlichere Feldfrüchte wie Weizen, Linsen und Gemüse gab? Aber von diesem schmackhaften Wintergetreide wurde immer weniger angebaut; jetzt gab es die Opiumfabrik mit ihrem unstillbaren Hunger. Sobald es kalt wurde, durfte man praktisch nur noch Mohn anbauen, etwas anderes ließen die englischen Sahibs nicht zu. Ihre Agenten gingen von Haus zu Haus, drängten den Bauern Barvorschüsse auf und ließen sie Schuldscheine unterschreiben. Nein sagen konnte man nicht: Weigerte sich ein Bauer, versteckten sie das Geld in seinem Haus oder warfen es durch ein Fenster hinein. Da half es nichts, wenn er dem weißen Richter versicherte, dass er das Geld nicht angenommen hatte und dass sein Daumenabdruck gefälscht war. Der Richter bekam Prozente vom Ertrag des Opiums und ließ den Mann nicht davonkommen. Und am Ende brachte das alles nicht mehr als dreieinhalb Sicca-Rupien ein, gerade genug, um den Vorschuss zurückzuzahlen.

    Diti bückte sich, brach eine Mohnkapsel ab und hielt sie sich unter die Nase. Der antrocknende Saft

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