Das mohnrote Meer - Roman
Trinken nicht fehlte, ging es in der Kombüse fröhlicher zu als in der Messe. Von Zeit zu Zeit konnte man die Auswanderer sogar singen hören.
Mājha dhāra mē hai bera merā
Kripā karā āsrai hai terā …
Mein Floß treibt in der Strömung,
Dein Erbarmen ist meine einzige Zuflucht …
»Diese verdammten Kulis«, murmelte der Kapitän mit vollem Mund. »Nicht mal das Jüngste Gericht könnte ihrem Gejaule ein Ende setzen.«
Ein Schiff konnte, je nach Wind und Wetter, für die Fahrt flussabwärts von Kalkutta zum Golf von Bengalen bis zu drei Tage brauchen. Zwischen der Mündung des Flusses und dem offenen Meer lag die Insel Ganga-Sagar, der letzte der vielen heiligen Pilgerorte am Fluss. Einer von Nils Vorfahren hatte einen Tempel auf der Insel gestiftet, den Nil mehrmals selbst aufgesucht hatte. Die Halder-Zamindari lag etwa auf halbem Weg zwischen Kalkutta und Ganga-Sagar, und Nil wusste, dass die Ibis etwa am Abend des zweiten Tages an seinem Besitz vorbeikommen würde. Er hatte diese Reise so oft unternommen, dass er in den Schleifen und Windungen des Flusses das Herannahen der Zamindari förmlich spüren konnte. Je näher sie kam, umso mehr füllte sich sein Kopf mit Erinnerungen, manche so hell und scharfkantig wie Glasscherben. Als es so weit war, hörte er wie zum Hohn den Ausguck von oben rufen: »Raskhali! Raskhali liegt querab!«
Er sah es vor sich, so klar, als wäre der Rumpf des Schoners aus Glas. Da lag er, der Palast mit seinen Kolonnaden, die Terrasse, auf der er Raj Rattan im Drachensport unterwiesen, die Allee von Palashbäumen, die sein Vater angelegt, das Fenster des Schlafzimmers, in das er Elokeshi geführt hatte.
»Was ist denn, hm?«, fragte Ah Fatt. »Warum schlägst du dich an den Kopf, hm?« Als Nil keine Antwort gab, rüttelte Ah Fatt ihn an der Schulter, bis seine Zähne klapperten.
»Der Ort, an dem wir jetzt vorbeifahren – du kennst ihn, kennst ihn nicht?«
»Ich kenne ihn.«
»Dein Dorf, hm?«
»Ja.«
»Haus? Familie? Erzähl mir alles.«
Nil schüttelte den Kopf. »Nein. Vielleicht ein andermal.«
»Achchhā . Andermal.«
Raskhali war jetzt so nahe, dass Nil fast die Glocken seines Tempels hören konnte. Was er jetzt brauchte, war ein anderer Ort, ein Ort, an dem er sich von seinen Erinnerungen befreien konnte. »Wo ist deine Heimat, Ah Fatt? Erzähl mir davon. Ist es ein Dorf?«
»Nicht Dorf.« Ah Fatt kratzte sich das Kinn. »Meine Heimat sehr groß: Guangzhou. Engländer nennen ›Kanton‹.«
»Erzähl. Erzähl mir alles.«
»Hou-hou …«
So kam es, dass Nil, während die Ibis sich noch auf dem Hooghly befand, nach Kanton versetzt wurde – und diese andere Reise, viel interessanter als seine eigene, half ihm, auf der ersten Etappe nicht den Verstand zu verlieren. Kein anderer als Ah Fatt, niemand, den er je gekannt hatte, hätte ihm zu der Flucht verhelfen können, die er brauchte, in ein Reich, das ihm gänzlich unbekannt und so ganz anders war als sein eigenes.
Es lag nicht etwa an Ah Fatts Beredtheit, dass Nil eine so anschauliche Vorstellung von Kanton bekam, dass die Stadt für ihn fast Wirklichkeit wurde. Das Gegenteil traf zu, denn das Geniale an Ah Fatts Schilderungen lag in dem, was ungesagt blieb: Wer ihm zuhörte, musste es wagen, sich auf eine Mitarbeit einzulassen, in deren Verlauf sich die Dinge, von denen die Rede war, nach und nach in Produkte einer gemeinsamen Fantasie verwandelten. So wurde Nil allmählich klar, dass Kanton für seine eigene Stadt dasselbe war wie Kalkutta für die umliegenden Dörfer – ein Ort staunenswerter Pracht und unerträglicher Verkommenheit, so großzügig im Gewähren von Freuden wie gnadenlos im Auferlegen von Leiden. Durch Zuhören und Nachfragen bekam Nil fast das Gefühl, mit Ah Fatts Augen sehen zu können. Da lag sie, die Stadt, die diese neue Hälfte seiner selbst erdacht und ernährt hatte, ein Seehafen weit im Landesinneren, vom Ozean getrennt durch ein unübersehbares Gewirr von Sümpfen, Sandbänken, Rinnsalen und Meeresarmen. Er hatte die Form eines Schiffes, dieser Hafen, der Rumpf gesäumt von einem durchgehenden Schanzkleid aus hohen grauen Mauern. Zwischen dem Wasser und den Mauern der Stadt lag ein Streifen Land so turbulent wie das Kielwasser eines Schiffes: Obwohl außerhalb der Stadtgrenzen gelegen, war dieser Küstenstreifen so dicht besiedelt, dass niemand zu sagen wusste, wo das Land aufhörte und das Wasser begann. Sampans, Dschunken, Lorchas und Opiumboote waren hier in so
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