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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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vor ihr vorbeiflog. Lieber hätte sie sich ins Wasser fallen lassen, als ihre Flugbahn zu kreuzen, doch Kalua war dicht hinter ihr und hielt sie fest. Hinter ihm drängten so viele nach, dass er dem Druck nicht standhalten konnte. Angetrieben von den Mistris, rückten die Auswanderer unerbittlich vor, und Diti blieb nichts anderes übrig, als die unsichtbare Linie zu überschreiten. Im nächsten Moment stand sie auf Deck.
    Durch den Schleier ihres Saris schaute sie an den turmhohen Masten empor. Ihr wurde ein wenig schwindlig davon, deshalb neigte sie den Kopf wieder und senkte den Blick. Auf dem Deck waren mehrere Mistris und Silahdars postiert, die
die Auswanderer mit ihren lāthīs in Richtung der Schiebeluke scheuchten. »Weiter. Weiter.« Trotz ihrer Rufe ging es wegen der vielen Hindernisse auf Deck nur langsam voran. Wo man hinschaute, sah man Taue, Tonnen, Fässer und sogar das eine oder andere entlaufene Huhn oder eine meckernde Ziege.
    Diti hatte fast schon den Fockmast erreicht, als sie eine Stimme hörte, die ihr irgendwie bekannt vorkam: Der Mann sprach Bhojpuri, und seine Worte waren unflätige Beschimpfungen: Tore māi ke bur chodo!
    Sie schaute durch das Gewirr von Tauen, Leinen und Spieren nach vorn und erblickte einen stiernackigen, dickbäuchigen Mann mit einem üppigen weißen Schnauzbart; ihre Füße versagten ihr den Dienst, und eine eiskalte Hand schloss sich um ihr Herz. Sie wusste, wer es war, doch eine Stimme sagte ihr, der Mann sei gar kein Sterblicher, sondern Saturn persönlich: Er ist es, shani , er hat dich dein Leben lang gejagt, und jetzt hat er dich in seiner Gewalt. Ihre Knie knickten ein, und sie fiel aufs Deck, ihrem Mann vor die Füße.
    Immer mehr Menschen strömten an Deck, und die Aufseher trieben sie mit ihren Stöcken zum Vorschiff. Wäre der Mann hinter Diti kleiner und schwächer gewesen als Kalua, man hätte sie womöglich niedergetrampelt. Doch als Kalua sie zusammenbrechen sah, stemmte er sich gegen die nachrückenden Auswanderer und brachte so den Strom zum Halten.
    »Was ist denn hier los?«
    Der Zwischenfall hatte Bhairo Singhs Aufmerksamkeit erregt, und er ging mit erhobenem Schlagstock auf Kalua los. Diti blieb liegen und zog den Sari dicht über ihr Gesicht. Doch was für einen Sinn hatte es, sich zu verstecken, da doch Kalua vor ihr stand, für jedermann zu sehen? Bhairo Singh würde sie mit Sicherheit erkennen. Sie schloss die Augen und begann, Gebete zu murmeln: »Hāy rām, hāy rām. «

    Doch im nächsten Moment hörte sie, wie Bhairo Singh Kalua fragte: »Wie heißt du?«
    War es möglich, dass der Subedar Kalua nicht wiedererkannte? Ja, natürlich: Er war ja viele Jahre nicht mehr im Dorf gewesen und hatte ihn wahrscheinlich nie gesehen, außer als Kind – und warum hätte er sich für das Kind eines Gerbers interessieren sollen? Doch den Namen Kalua – den kannte er bestimmt, wegen des Skandals um Ditis Flucht vom Scheiterhaufen ihres Mannes. Wie klug war doch das Schicksal gewesen, das ihr eingegeben hatte, ihrer beider Namen nicht zu verraten. Hoffentlich nannte Kalua seinen auch jetzt nicht. Um ihn zu warnen, grub sie ihren Fingernagel in seine Zehe: Pass auf! Pass auf!
    »Wie heißt du?«, fragte der Subedar erneut.
    Ditis Gebet wurde erhört. Nach kurzem Zögern sagte Kalua: »Malik, ich heiße Madhu.«
    »Ist das deine Frau, die da liegt?«
    »Ja, Malik.«
    »Heb sie auf«, sagte Bhairo Singh, »und trag sie ins Zwischendeck runter. Und dass mir keiner von euch beiden noch mal Ärger macht.«
    »Jawohl, Malik.«
    Kalua schwang sich Diti über die Schulter und trug sie die Treppe hinab; ihre Bündel blieben an Deck zurück. Als er Diti auf eine Matte gelegt hatte, wollte er zurückgehen, um ihre Sachen zu holen, aber sie ließ es nicht zu. »Nein, hör mir erst zu: Weißt du, wer dieser Mann war? Das ist Bhairo Singh, der Onkel meines Mannes; er hat meine Ehe arrangiert, und er hat die Leute ausgeschickt, die uns suchen sollten. Wenn er erfährt, dass wir hier sind …«

    »Klar zum Auslaufen?« Auf den Ruf des Lotsen antwortete Serang Ali prompt: »Sab taiyār, sāhib. «
    Die Sonne stand jetzt im Zenith, und die Luke, die ins Zwischendeck hinabführte, war schon längst verschlossen worden. Zusammen mit den anderen Laskaren hatte Jodu klar Schiff machen müssen – Fässer mit Trinkwasser stapeln, Taue aufschießen und Trossen durch die Klüsen legen lassen. Nun waren auch die Hühner und Ziegen sicher in den Booten verstaut, und es blieb nichts

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