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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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mehr zu tun. Jodu konnte es kaum erwarten, wieder zur Rah aufentern zu können, denn er wollte von dort oben einen letzten Blick auf seine Heimatstadt werfen. Er hatte als Erster die Hand an der untersten Webleine, als das letzte Kommando kam: »Vortoppmänner aufentern!«
    Von Kalkutta bis Diamond Harbour, etwa zwanzig Meilen südlich, sollte die Ibis von der Forbes geschleppt werden, einem von mehreren Dampfschleppern, die vor Kurzem auf dem Hooghly in Dienst gestellt worden waren. Jodu hatte schon öfter von Weitem gesehen, wie die kleinen Boote mächtige Barken und Brigantinen zogen, als seien diese Schiffe nicht schwerer als sein gebrechliches Dingi. Gespannt wartete er deshalb darauf, wie es sein würde, von einem dieser erstaunlichen Fahrzeuge geschleppt zu werden. Er schaute flussaufwärts und sah, dass der gedrungene kleine Schlepper bereits angedampft kam und immer wieder seine Glocke ertönen ließ, um sich einen Weg durch den dichten Verkehr auf dem Fluss zu bahnen.
    Am jenseitigen Ufer lag der Botanische Garten, und von seinem Ausguck aus konnte Jodu die vertrauten Bäume und Wege erkennen. Einen Moment lang stellte er sich vor, Putli säße hier neben ihm auf der Saling. Dass es Spaß machen würde, war klar, und dass auch sie es hier herauf geschafft hätte, stand ebenfalls außer Zweifel. Aber so etwas konnte
man natürlich unter gar keinen Umständen zulassen. Schade war nur, dass sie sich nicht in aller Freundschaft, sondern im Streit getrennt hatten, denn wann sie sich, falls überhaupt, noch einmal wiedersehen würden, stand in den Sternen.
    Er war so tief in Gedanken, dass er zusammenzuckte, als Sunker sagte: »Schau, da drüben …«
    Man sah die Köpfe zweier Taucher, die dabei waren, die Trosse des Schoners von einer Boje zu lösen. Es war jetzt fast so weit: In ein paar Minuten würde es losgehen. Mamdu-Tindal warf sein Haar zurück und schloss die lang bewimperten Augen. Dann bewegte er die Lippen im Gebet: Leise murmelnd sprach er die ersten Worte der Fatiha. Jodu und Sunker fielen alsbald ein: »Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. Lob sei Gott, dem Herrn der Menschen …«

    »Alle Mann auf Station!« Dem Kommando des Lotsen folgte der Ruf des Serangs: »Sab ādmī apnī jagah! «
    Während der Schlepper näher kam, schwoll das Hämmern und Stampfen seiner Maschine immer mehr an, und in der stickigen, düsteren Enge des Zwischendecks klang es, als versuchte ein tobender Dämon, die Beplankung des Rumpfes aufzureißen, um die darin zusammengekauerten Menschen zu verschlingen. Es war sehr dunkel in dem Raum, denn die Mistris hatten im Hinausgehen alle Kerzen und Öllampen gelöscht. Die seien überflüssig, hatten sie gesagt, die Auswanderer seien ja nun alle untergebracht, die Lichter hätten nur unnötig die Brandgefahr erhöht. Niemand hatte aufbegehrt, aber alle wussten, dass die Aufseher lediglich Kosten sparen wollten. Da auch die Luke verschlossen war, kam nur noch ein bisschen Licht durch die Ritzen in den Decksplanken. Die bleierne Düsternis im Verein mit der Mittagshitze und dem Gestank von Hunderten schwitzender Leiber ließ die Luft
zum Schneiden dick werden, sodass jeder Atemzug Überwindung kostete.
    Die Girmitiyas hatten ihre Matten nach Belieben verteilt. Dass die Mistris sich kaum um die Zustände im Zwischendeck kümmern würden, war von Anfang an klar; sie hatten es eilig, der Hitze und dem Kloakengestank des Zwischendecks zu entkommen und sich in ihre eigene Unterkunft in der Mittschiffskajüte zurückzuziehen. Kaum waren die Aufseher gegangen und hatten die Luke verschlossen, da fingen die Auswanderer auch schon an, den bunten Kreis der Matten aufzulösen und sich lautstark um die besten Plätze zu raufen.
    Der Lärm von dem Schlepper wurde immer lauter, und Munia begann zu zittern. Paulette spürte, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand, und zog sie an sich. Sie gab sich gefasst, spürte aber selbst einen Anflug von Panik, als sie Zacharys Stimme hörte. Er stand direkt über ihr auf Deck, so nahe, dass sie fast das Scharren seiner Füße hörte.
    »Trosse belegen!«
    »Alle Mann hieven!«
    Die Trossen, die die Ibis mit dem Schlepper verbanden, strafften sich, und ein Zittern lief durch den Schoner, als erwachte er plötzlich zum Leben, wie ein aus nächtlichem Schlaf aufgestörter Vogel. Vom Rumpf pflanzten sich die Erschütterungen durch das Zwischendeck bis ins Deckshaus fort, wo Steward Pinto sich bekreuzigte und niederkniete. Als er die

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