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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Paulette lernte schnell, sich bei der Arbeit Zeit zu lassen, um sich möglichst lange an der frischen Luft aufhalten zu können. Die Ibis war inzwischen tief in das Wasserlabyrinth der Sundarbans eingedrungen, und Paulette nutzte jede Gelegenheit, die mangrovenbedeckten Ufer zu betrachten. Die Schifffahrtswege waren hier von Schlickbänken und anderen Hindernissen durchsetzt, und die Fahrrinne war entsprechend gewunden. Manchmal führte eine ihrer Schleifen so nahe ans Ufer, dass man den Dschungel genau sehen konnte. Zu Paulettes glücklichsten Erinnerungen gehörten die wochenlangen botanischen Exkursionen in Jodus Boot, auf denen sie ihrem Vater geholfen hatte, die Flora dieses
Waldes zu katalogisieren. Als sie nun durch ihren ghūnghat hindurch zum Ufer hinüberschaute, durchkämmten ihre Augen aus alter Gewohnheit das Grün. Unter den Stelzwurzeln eines Mangrovenbaums wuchs da ein kleiner Strauch Wildes Basilikum, ocimum adscendens ; Mr. Voight, der dänische Direktor des Botanischen Gartens von Serampur – der beste Freund ihres Vaters –, hatte bestätigt, dass die Pflanze tatsächlich in diesen Wäldern zu finden war. Dicht bewachsen waren die Ufer von ceriops roxburgiana , die der schreckliche Mr. Roxburgh bestimmt hatte; er war so unfreundlich zu ihrem Vater gewesen, dass dieser schon beim bloßen Klang seines Namens erbleicht war. Und dort auf dem grasbewachsenen Streifen, oberhalb der Mangrove gerade noch zu sehen, stand ein spitzblättriger Strauch, den Paulette nur zu gut kannte: acanthus lambertii . Ihr Vater hatte ihn auf ihr Drängen so genannt, weil sie buchstäblich darüber gestolpert war und seine stachligen Blätter sie ins Bein gestochen hatten. Als sie nun die vertrauten Pflanzen vorüberziehen sah, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Für sie waren es mehr als nur Pflanzen, es waren Gefährten ihrer Kindheit, und ihre tief in die Erde reichenden Triebe waren fast ihre eigenen. Wohin auch immer sie ging und für wie lange – nichts würde sie je wieder so an einen Ort binden wie diese Wurzeln ihrer Kindheit.
    Für Munia dagegen war der Wald ein Ort der Angst. Eines Nachmittags – Paulette tat so, als würde sie Wäsche waschen, schaute in Wirklichkeit aber zum Ufer hinüber – erschien Munia neben ihr und schnappte erschrocken nach Luft. Sie griff nach Paulettes Arm und zeigte auf etwas Langes, Gewundenes, das von einem Mangrovenast herabhing. »Ist das eine Schlange?«, flüsterte sie.
    Paulette lachte. »Aber nein, Dummchen, das ist eine Kletterpflanze,
die auf der Rinde wächst. Ihre Blüten sind sehr schön …«
    Es war eine epiphytische Orchidee; zum ersten Mal war Paulette ihr vor drei Jahren begegnet, als Jodu ein Exemplar mit nach Hause gebracht hatte. Ihr Vater hatte sie zunächst für dendrobium pierardii gehalten, war aber nach näherer Untersuchung wieder davon abgekommen. »Wie würdest du sie gern nennen?«, hatte er Jodu lächelnd gefragt, und Jodu hatte Paulette einen Blick zugeworfen, ehe er mit einem durchtriebenen Grinsen geantwortet hatte: »Nennen Sie sie ›Putliphul‹.« Er wollte Paulette necken, sich über sie lustig machen, weil sie so flachbrüstig und schmächtig war, aber ihr Vater war ihm auf den Leim gegangen und hatte die Orchidee dendrobium pauletii genannt.
    Munia schauderte. »Bin ich froh, dass ich nicht hier arbeiten muss. Auf dem Deckshaus oben ist es viel schöner. Die Laskaren kommen direkt an mir vorbei, wenn sie zu den Segeln hinaufklettern.«
    »Sagen sie manchmal etwas zu dir?«, fragte Paulette. »Nur er.« Munia schaute über die Schulter zur Fockrah, wo Jodu hoch aufgerichtet auf dem Fußliek stand und das Vormarssegel reffte. »Schau ihn dir an! Dauernd muss er sich aufspielen. Aber lieb ist er, das muss man ihm lassen, und gut aussehen tut er auch.«
    Da sie wie Geschwister aufgewachsen waren, hatte Paulette kaum jemals auf Jodus Aussehen geachtet. Als sie jetzt zu seinem jungenhaft lebendigen Gesicht aufsah, den aufgeworfenen Lippen und dem Kupferschimmer in seinem rabenschwarzen Haar, konnte sie verstehen, dass Munia sich zu ihm hingezogen fühlte. Ein wenig verlegen fragte sie: »Worüber habt ihr gesprochen?«
    Munia kicherte. »Der ist wie ein Fuchs. Wollte mir weismachen,
ein Hakim in Basra hätte ihm das Wahrsagen beigebracht. ›Wie denn?‹, hab ich gefragt. Und weißt du, was er geantwortet hat?«
    »Was?«
    »Er hat gesagt: ›Lass mich mein Ohr an dein Herz legen, dann sag ich dir die Zukunft voraus. Noch besser geht es mit

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