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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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ersten Worte sprach, knieten die Schiffsjungen, gleich welcher Religion, ebenfalls nieder und senkten den Kopf: »Ave Maria, gratia plena, dominus tecum … Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade. Der Herr sei mit Dir …«

    Auf dem Hauptdeck stand Mr. Doughty am Ruder und rief: »Hieven, ihr Hunde, hieven!«

    Der Schoner legte sich nach Backbord, und in der Dunkelheit des Zwischendecks rutschten die Menschen weg und fielen durcheinander wie Krümel auf einem Tablett. Nil hielt das Auge an die Lüftungsöffnung und sah, dass in dem Raum nebenan der blanke Aufruhr herrschte: Dutzende verängstigter Menschen drängten zum Niedergang und schlugen mit den Fäusten an den verschlossenen Lukendeckel: » Chhoro, chhoro – lasst uns raus, lasst uns raus …«
    Von oben kam keine Antwort, nur Lotsenkommandos schallten über das Deck.
    Aufgebracht über den Tumult der Girmitiyas, rief Nil durch das Trennschott: »Ruhe da drüben! Es gibt kein Entkommen, keinen Weg zurück …!«
    Nach und nach machte sich die Fahrt des Schiffes bei allen durch ein flaues Gefühl in der Magengegend bemerkbar, der Lärm erstarb, und eine unheilvolle Stille breitete sich aus. Den Girmitiyas dämmerte, dass es kein Entrinnen mehr gab: Ja, sie fuhren, sie waren unterwegs zur Leere des Schwarzen Wassers; weder Tod noch Geburt waren so endgültig und so furchterregend wie dieser Aufbruch, erlebte man doch beide nicht bei vollem Bewusstsein. Einer nach dem anderen ließen die Empörten von der Treppe ab und kehrten zu ihren Matten zurück. Irgendwo in der Dunkelheit sprach eine vor Bangigkeit zitternde Stimme die ersten Silben des gāyatrī -Mantras, und Nil, der, kaum dass er sprechen gelernt hatte, dazu angehalten worden war, die Worte auswendig zu lernen, sagte sie ebenfalls auf, als sei es das erste Mal: »Om bhūr bhuvah svah, tat savitur varenyam … O Spender des Lebens, Tilger von Schmerz und Kummer …«

    Oben auf dem Fockmast spürte Jodu das Zittern, das durch den Rumpf der Ibis lief, auch in der Rah, und da wusste er, dass
der Moment gekommen war, auf den sein Leben so manches lange Jahr hindurch zugesteuert war. Endlich verließ er die schlammigen Ufer, um in die Gewässer zu fahren, die nach Basra und Kanton, nach Martaban und Sansibar führten. Während der Mast ins Schwanken geriet, beobachtete er mit stolzgeschwellter Brust, welch schönes Bild die Ibis unter den vielen Fahrzeugen auf dem Fluss abgab. In seiner luftigen Höhe war ihm, als hätte der Schoner ihm Flügel verliehen, auf denen er sich hoch über seine Vergangenheit erhob. In seinem Freudentaumel riss er sich mit der freien Hand das Tuch vom Kopf.
    »Lebt wohl, ihr alle«, rief er und winkte zum Ufer hinüber. »Jodu ist auf und davon … o ihr Huren von Watgunge, ihr Matrosen von Bhutghat … Jodu ist jetzt Laskare, und er ist … auf und davon!«

SIEBZEHNTES KAPITEL
    I n der Abenddämmerung erreichte die Ibis wieder Hooghly Point, und dort, in der weiten Biegung des Flusses, ging sie für die Nacht vor Anker. Erst als die Ufer gänzlich in Dunkelheit getaucht waren, durften die Girmitiyas an Deck; bis dahin blieb die Luke fest verschlossen. Der Subedar und die Aufseher waren der Meinung, dass die Auswanderer, da sie nun einen ersten Eindruck von den Verhältnissen an Bord bekommen hatten, zu Fluchtversuchen neigen würden; bei Tageslicht konnte das Ufer eine unwiderstehliche Versuchung darstellen. Aber auch nach Einbruch der Nacht, als die hungrigen Schakale heulten, erlahmten die Mistris nicht in ihrer Wachsamkeit. Aus Erfahrung wussten sie, dass es in jeder Gruppe von Kontraktarbeitern einige gab, die sich in ihrer Verzweiflung sogar ins Wasser stürzten. Als es Zeit für das Abendessen wurde, behielten sie jeden einzelnen im Auge. Selbst diejenigen, die als Bhandaris eingeteilt waren, wurden streng bewacht, während sie in der Kombüse in den großen Töpfen rührten. Die übrigen durften nur grüppchenweise an Deck und wurden, sobald sie mit dem Essen fertig waren, wieder ins Zwischendeck zurückgeschickt.
    Während die Bhandaris und Mistris sich um die Verpflegung der Auswanderer kümmerten, servierten Steward Pinto und seine Schiffsjungen den Offizieren Hammelbraten mit Minzsoße und Pellkartoffeln. Die Portionen waren großzügig bemessen, denn der Steward hatte sich vor dem Auslaufen in
Kalkutta mit zwei Hammelhälften eingedeckt, und das Fleisch würde sich in der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze nicht lange halten. Doch obwohl es an Essen und

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