Das mohnrote Meer - Roman
selbst sparte nicht mit Lob für ihre liebe Schwiegertochter Diti.
Je länger Diti mit der Droge umging, desto mehr Respekt gewann sie vor ihrer Macht. Was für ein schwaches Wesen war doch der Mensch, dass solch winzige Mengen dieser Substanz ihn zähmen konnten! Sie verstand jetzt, warum die Fabrik in Ghazipur von den Sahibs und ihren Sepoys so streng bewacht wurde. Wenn schon das bisschen Opium ihr, Diti, solche Macht über Leben, Charakter und selbst die Seele ihrer Schwiegermutter verlieh – hätte sie mit größeren Mengen davon nicht Königreiche erobern und Massen beherrschen können? Und bestimmt war es nicht die einzige Substanz dieser Art auf der Welt.
Sie begann sich näher für die reisenden Hebammen und Zauberer zu interessieren, die ab und zu ins Dorf kamen. Sie lernte Pflanzen wie Hanf und Stechapfel erkennen und führte hin und wieder kleine Experimente durch: Sie verabreichte ihrer Schwiegermutter Extrakte dieser Pflanzen und beobachtete die Wirkung.
Ein Stechapfelabsud versetzte die alte Frau in einen Trancezustand, von dem sie sich nie wieder erholte, und entlockte ihr schließlich die Wahrheit. In ihren letzten Lebenstagen, wenn ihr Geist schweifte, nannte sie Diti oftmals »Draupadi«. Nach dem Grund gefragt, murmelte sie schläfrig: »Weil die Welt nie eine tugendhaftere Frau gesehen hat als Draupadi
aus dem Mahabharata, Gemahlin von fünf Brüdern. Eine gesegnete Frau, eine saubhāgyavatī , die die Kinder von Brüdern gebiert …«
Diese Andeutung bestärkte Diti in der Überzeugung, dass das Kind in ihrem Leib nicht von ihrem Mann gezeugt worden war, sondern von Chandan Singh, ihrem Schwager, dem Jugendlichen mit dem lüsternen Blick und dem schlaffen Kinn.
In zwei Tagen langsamer Fahrt auf dem verschlammten Fluss erreichte die Ibis die Engstelle bei Hooghly Point, wenige Meilen vor Kalkutta. Wegen starker Böen warf sie dort Anker, um die Flut abzuwarten, mit der sie am nächsten Morgen ihr Ziel erreichen würde. Da die Stadt nicht mehr weit war, wurde ein reitender Bote losgeschickt, der Mr. Benjamin Burnham von der bevorstehenden Ankunft des Schoners unterrichten sollte.
Die Ibis war nicht das einzige Schiff, das an diesem Nachmittag an der Engstelle Schutz suchte: Ganz in der Nähe ankerte ein prächtiges Hausboot, das zu dem großen, eine halbe Tagesreise entfernten Besitztum Raskhali gehörte. So ergab es sich, dass Raja Nil Rattan Halder, der Zamindar von Raskhali, Zeuge der Ankunft der Ibis wurde, denn er befand sich zusammen mit seinem achtjährigen Sohn und einem ansehnlichen Gefolge von Bediensteten an Bord des Badgero. Ebenfalls bei ihm war seine Geliebte, eine einstmals berühmte Tänzerin, allseits bekannt unter ihrem Künstlernamen Elokeshi. Der Raja kehrte nach einem Besuch auf Raskhali zu seinem Wohnsitz Kalkutta zurück.
Die Halders von Raskhali waren eine der ältesten und bekanntesten Familien Bengalens, und ihr Boot gehörte zu den luxuriösesten, denen man auf dem Fluss begegnen konnte. Es handelte sich um einen als Brigantine getakelten Pinassen-Badgero,
eine anglisierte Version des bescheideneren bengalischen bajrās. Der Rumpf des geräumigen zweimastigen Hausboots war blau und grau gestrichen, passend zur Raskhali-Livree, und auf Bug und Segel prangte das Familienwappen – ein stilisierter Tiger. Das Hauptdeck hatte sechs große Kajüten mit venezianischen Fenstern und Lamellenfensterläden; außerdem verfügte es über einen prunkvollen Empfangssaal – einen shīsh mahal – mit Spiegeln und Kristallmedaillons an den Wänden. Dieser Raum, der nur zu formellen Anlässen benutzt wurde, war groß genug für Tanzvorführungen und andere Darbietungen. Oft wurden an Bord üppige Festmähler ausgerichtet, doch die Speisen durften nirgends auf dem Boot zubereitet werden. Die Halders waren zwar keine Brahmanen, aber orthodoxe Hindus und sehr darauf bedacht, die Tabus der Oberschicht zu beachten und sich an die Sitten und Gebräuche ihrer Klasse zu halten. Die mit der Zubereitung von Mahlzeiten einhergehenden Verunreinigungen waren ihnen ein Gräuel. Unterwegs hatte der Halder-Badgero stets ein zweites, kleineres Boot im Schlepptau, einen Palvar; dieses zweite Fahrzeug diente nicht nur als Küchenboot, sondern auch als schwimmende Unterkunft für das kleine Heer von Kaiaufsehern, Handlangern und anderen Bediensteten, die stets zum Gefolge des Zamindars gehörten.
Das Oberdeck des Badgeros war eine offene, ringsum von einer hüfthohen Reling umgebene Galerie. Auf
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