Das mohnrote Meer - Roman
diesem Deck ließen die Zamindars von Raskhali nach altem Brauch Drachen steigen. Dieser Sport war bei den männlichen Halders sehr beliebt, und wie auch bei anderen Lieblingsbeschäftigungen – beispielsweise der Musik und dem Züchten von Rosen – hatten sie besondere Feinheiten erfunden, die das Drachensteigenlassen über einen bloßen Zeitvertreib hinaus in den Rang einer Kunstform erhoben. Während andere sich nur
dafür interessierten, wie hoch ihre Drachen fliegen und wie gut sie mit anderen »kämpfen« konnten, ging es den Halders vor allem darum, welche Flugbahn ein Drachen beschrieb und inwieweit sie der Stärke und Stimmung des jeweils herrschenden Windes entsprach. Generationen des Wohlstandes und der Muße hatten es ihnen gestattet, ihre eigene Terminologie für diesen Aspekt der Elemente zu entwickeln: In ihrem Wortschatz war eine steife, stetige Brise »nīl «, blau, ein heftiger Nordost violett und ein laues Lüftchen gelb.
Die Böen, deretwegen die Ibis bei Hooghly Point vor Anker gegangen war, hatten keine dieser Farben. Solche Winde waren für die Halders »saklat « – eine Schattierung von Scharlachrot, die sie mit plötzlichen Umschwüngen in ihrem Geschick in Verbindung brachten. Die Rajas von Raskhali waren seit jeher dafür berühmt, dass sie Vorzeichen große Bedeutung beimaßen, und in diesem Betracht – wie auch in den meisten anderen Angelegenheiten – war Nil Rattan Halder ein getreuer Bewahrer der Familientradition. Seit mehr als einem Jahr schon wurde er nun von schlechten Nachrichten verfolgt, und die plötzliche Ankunft der Ibis im Verein mit der wechselhaften Farbe des Windes erschien ihm als ein sicheres Anzeichen für eine Wende in seinem Schicksal.
Der derzeitige Zamindar selbst war nach dem nobelsten aller Winde benannt, der stetigen blauen Brise (Jahre später, als er in Ditis Schrein Eingang fand, sollte sie ihn mit wenigen Strichen in dieser Farbe darstellen). Nil war erst seit dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren Träger des Titels. Er war Ende zwanzig, doch obwohl seine Jünglingsjahre schon um einiges zurücklagen, war ihm die schwächliche Gestalt des kränklichen Kindes geblieben, das er einst gewesen war. Sein langes, schmales Gesicht zeigte die Blässe derer, die sich stets vor dem gleißenden Licht der Sonne schützen, und auch seine langen,
dünnen Gliedmaßen erinnerten an die Ranken Schatten liebender Pflanzen. Sein Teint war so hell, dass sein Mund wie eine Blüte wirkte, deren leuchtendes Rot durch das Bärtchen auf der Oberlippe noch betont wurde.
Wie andere seines Geschlechts war Nil bei seiner Geburt der Tochter einer bedeutenden Grundbesitzerfamilie anverlobt worden; die Ehe war geschlossen worden, als er zwölf war, doch nur ein einziges noch lebendes Kind war aus ihr hervorgegangen – Nils acht Jahre alter Stammhalter Raj Rattan. Mehr noch als jeder andere in der Familie liebte der Junge den Drachensport; auf sein beharrliches Drängen hin hatte sich Nil an dem Nachmittag, als die Ibis in der Engstelle Anker warf, aufs oberste Deck des Badgero hinaufgewagt.
Es war die Flagge des Schiffseigners am Großmast der Ibis , die Nils Aufmerksamkeit auf sich zog: Er kannte den karierten Wimpel fast so gut wie das Emblem seines eigenen Besitzes, hingen doch die Geschicke seiner Familie schon seit Langem von der Firma ab, deren Gründer Benjamin Burnham war. Der Zamindar erkannte auf den ersten Blick, dass die Ibis eine Neuerwerbung war: Von den Terrassen seines Hauptsitzes in Kalkutta, der Raskhali-Rajbari, hatte er einen ungehinderten Ausblick über den Hooghly und kannte daher die meisten der Schiffe, die regelmäßig in der Stadt anlegten. Er wusste, dass die Burnham-Flotte überwiegend aus im Land erbauten »einheimischen« Schiffen bestand; in letzter Zeit waren ihm einige schnittige, in Amerika gebaute Klipper auf dem Fluss aufgefallen, aber keiner davon gehörte den Burnhams – an ihren Masten wehte die Flagge von Jardine & Matheson, einer Konkurrenzfirma. Doch die Ibis war kein einheimisches Schiff; sie war zwar nicht im besten Zustand, aber unverkennbar ein Produkt erlesener Handwerkskunst – ein solches Schiff war nicht billig zu haben. Nils Neugier war geweckt,
denn er sah in der Ankunft des Schoners ein mögliches Vorzeichen dafür, dass sein Stern sinken würde.
Ohne seine Drachenschnur loszulassen, rief er seinen Leibdiener heran, einen hochgewachsenen, beturbanten Mann aus Benares namens Parimal. »Nimm dir ein Dingi und rudere zu dem
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