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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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leisteten sie gute Dienste, denn die Seefesteren unter den Auswanderern halfen den anderen, die Eimer rechtzeitig zu erreichen. Bald aber flossen sie über, und ihr Inhalt schwappte auf den Boden. Das Schiff hob und senkte sich, immer mehr Auswanderern versagten die Beine, und sie übergaben sich dort, wo sie lagen. Der Geruch nach Erbrochenem vermischte sich mit dem ohnehin schon widerwärtigen Gestank in dem geschlossenen Raum und verstärkte die Wirkung der Schiffsbewegungen noch. Bald war es, als würde der Laderaum von einer steigenden Flut der Übelkeit überschwemmt. Eines Nachts erstickte ein Mann an seinem eigenen Erbrochenen, und unter den gegebenen Umständen blieb sein Tod den größten Teil des Tages unbemerkt. Als man den Leichnam schließlich entdeckte, konnte sich kaum noch einer der Girmitiyas auf den Beinen halten, und
so war keiner von ihnen dabei, als der Tote dem Wasser übergeben wurde.
    Diti hatte wie so viele andere nichts von dem Geschehen mitbekommen, und selbst wenn, hätte sie nicht die Kraft gehabt, auch nur zu dem Mann hinzuschauen. Mehrere Tage lang konnte sie nicht aufstehen, geschweige denn den Laderaum verlassen. Es bedeutete schon eine schier unerträgliche Anstrengung, wenn sie sich von ihrer Matte wälzen musste, damit Kalua sie säubern konnte, und bei dem bloßen Gedanken an Essen und Wasser musste sie würgen: »Ich halte das nicht mehr aus, ich kann nicht mehr …«
    »Doch, du kannst und du wirst.«
    Während Diti sich allmählich wieder erholte, ging es Sarju von Tag zu Tag schlechter. Einmal stöhnte sie nachts so erbärmlich, dass Diti, obwohl selbst noch elend, Sarjus Kopf in ihren Schoß bettete und ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn legte. Plötzlich spannte sich Sarjus Körper unter ihren Händen an. »Sarju?«, rief sie. »Was hast du?«
    »Nichts«, flüsterte Sarju. »Halt mal still …«
    Von Ditis Schrei aufgeschreckt, schauten einige andere Frauen zu ihnen hin. »Was hat sie?«, fragten sie. »Was ist los?«
    Sarju brachte sie mit schwankend erhobenem Finger zum Schweigen und legte ihr Ohr an Ditis Bauch. Die Frauen hielten den Atem an, bis Sarju die Augen wieder aufschlug.
    »Was ist denn los?«, fragte Diti.
    »Gott hat deinen Schoß gefüllt«, flüsterte Sarju. »Du bist schwanger!«

    Die einzige Tageszeit, zu der man Kapitän Chillingworth mit Sicherheit an Deck antreffen konnte, war die Mittagsstunde, wenn er zusammen mit den beiden Steuermännern die Sonnenpeilung vornahm. Auf diese Zeit freute sich Zachary am
meisten, und nicht einmal Mr. Crowles Gegenwart konnte sein Vergnügen an diesem Ritual beeinträchtigen. Es lag nicht nur daran, dass er seinen Sextanten so gern benutzte, obwohl das auch eine große Rolle spielte. Für ihn war dieser Moment der Ausgleich für die monotone Routine der Wachen und den Ärger darüber, sich ständig in der Nähe des Ersten Steuermanns aufhalten zu müssen. Die regelmäßigen Positionsänderungen des Schoners auf den Karten erinnerten ihn daran, dass dies keine Reise ohne Ende war. Jeden Tag, wenn Kapitän Chillingworth das Chronometer der Ibis zum Vorschein brachte, stellte Zachary sorgfältig seine eigene Uhr danach. Auch das Vorrücken des Minutenzeigers war ein Beweis dafür, dass der Schoner trotz des ewig gleich bleibenden Horizonts seinen Ort im Universum von Zeit und Raum laufend änderte.
    Mr. Crowle hatte keine Uhr, und es fuchste ihn, dass Zachary eine besaß. Jeden Mittag kam er mit einer neuen Stichelei: »Da fummelt er wieder, wie ein Affe mit einer Nuss …« Kapitän Chillingworth dagegen war von Zacharys Hang zur Genauigkeit beeindruckt: »Immer gut zu wissen, wo man in der Welt steht; hat noch keinem geschadet zu wissen, wo sein Platz ist.«
    Eines Tages, als Zachary gerade seine Uhr stellte, sagte der Kapitän: »Ein richtiges Prachtstück, das Sie da haben, Reid. Darf ich es mir mal ansehen?«
    »Aber sicher, Sir.« Zachary klappte den Deckel zu und reichte ihm die Uhr.
    Der Kapitän betrachtete stirnrunzelnd die feinziselierten Gravierungen. »Ein gutes Stück, Reid. Chinesische Arbeit, würde ich sagen. Wahrscheinlich in Macao gefertigt.«
    »Stellen die da Uhren her?«
    »Aber ja. Zum Teil sogar sehr gute.« Der Kapitän klappte
den Deckel auf, und sein Blick fiel sofort auf den eingravierten Namen auf der Innenseite. »Nanu, was sehe ich denn da?« Er las den Namen vor – Adam T. Danby – und wiederholte ihn noch einmal, als könnte er es nicht fassen: »Adam Danby?« Er wandte sich Zachary

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