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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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die Mistris ein leichtes Ziel. Ihre Stöcke krachten auf Schädel und Schultern der Auswanderer herab, sodass sie einer nach dem anderen wieder zurückfielen. Nach wenigen Minuten wurden Gitter und Lukendeckel wieder geschlossen.
    »Harāzādās! «, brüllte Singh. »Euch krieg ich noch klein, verlasst euch drauf! Ihr seid die aufsässigste Bande von Kulis, die mir je untergekommen ist …«
    Der Tumult kam jedoch nicht überraschend, denn nur selten passte sich eine Gruppe Auswanderer widerstandslos den Vorschriften an Bord an. Die Aufseher kannten diese Schwierigkeiten und wussten genau, was zu tun war: Sie riefen den Girmitiyas durch das Lukengitter zu, der Kapitän habe angeordnet, dass sie auf dem Hauptdeck antreten müssten; sie sollten einer nach dem anderen die Treppe heraufkommen.
    Die Frauen sollten als Erste an Deck, doch einige von ihnen waren in so schlechter Verfassung, dass man sie hinauftragen musste. Paulette verließ das Zwischendeck als Letzte, und erst, als sie oben war, merkte sie, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ihre Knie zitterten und drohten einzuknicken, und sie musste sich am Schanzkleid festhalten.
    Ein Fass Trinkwasser war im Schatten des Deckshauses aufgestellt worden, und ein Schiffsjunge schöpfte jeder Frau zwei
Kellen voll in ihren Krug. Ein paar Schritte dahinter hing das Beiboot an den Davits, und Paulette sah, dass mehrere Frauen darunter Schutz gesucht hatten. Am Schanzkleid entlang ging Paulette zu ihnen hin und hockte sich neben sie in das letzte noch freie Fleckchen Schatten. Wie die anderen trank sie in tiefen Zügen aus ihrem Krug und schüttete sich die letzten Tropfen über den Kopf, sodass das Wasser langsam in den schweißgetränkten ghūnghat sickerte, der ihr Gesicht bedeckte. Allmählich kehrten ihre Lebensgeister zurück.
    Bis zu diesem Moment hatte Paulette trotzig die Augen vor den möglichen Entbehrungen der Reise verschlossen. Sie hatte sich gesagt, sie sei jünger und stärker als viele der anderen und habe nichts zu befürchten. Jetzt aber wurde ihr klar, dass die kommenden Wochen über jedes vorstellbare Maß hinaus strapaziös werden würden; es war sogar möglich, dass sie die Reise nicht überleben würde. Als diese Erkenntnis nach und nach in ihr Bewusstsein drang, warf sie einen Blick zur Ganga-Sagar-Insel zurück und ertappte sich dabei, dass sie versuchte, die Entfernung abzuschätzen.
    Dann verkündete Bhairo Singh, dass alle angetreten seien.
    Kapitän Chillingworth war auf dem Achterdeck erschienen und stand unbeweglich wie eine Statue hinter der Nagelbank. Mittschiffs hatten sich die Laskaren, Mistris und Silahdars längs des Schanzkleids aufgestellt, um die versammelten Girmitiyas im Auge zu behalten.
    Mit der lāthī in der Hand wandte sich Singh den Auswanderern zu und rief: »Ruhe. Der Kapitän spricht jetzt zu euch, und ihr hört zu; der Erste, der einen Laut von sich gibt, kriegt meinen Stock auf den Kopf.«
    Oben auf dem Achterdeck zeigte der Kapitän noch immer keine Regung. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und ließ den Blick über die Menge schweifen. Inzwischen
war zwar eine leichte Brise aufgekommen, die jedoch kaum Kühlung brachte, denn die Luft schien sich unter dem Blick des Kapitäns noch weiter zu erhitzen. Als er endlich sprach, schallte seine Stimme wie das Knistern einer Flamme bis zum Vorschiff: »Hört mir genau zu, denn ich sage alles nur ein Mal.«
    Er machte eine Pause, damit Babu Nob Kissin dolmetschen konnte, und dann kam zum ersten Mal, seit er auf dem Achterdeck stand, seine rechte Hand zum Vorschein, und man sah, dass er eine zusammengerollte Peitsche in der Faust hielt. Ohne den Kopf zu drehen, zeigte er mit der Spitze der Peitsche nach Ganga-Sagar.
    »In der Richtung liegt die Küste, von der ihr gekommen seid, in der anderen das Meer, das ihr das ›Schwarze Wasser‹ nennt. Vielleicht denkt ihr, der Unterschied ist mit bloßem Auge leicht zu erkennen. Aber weit gefehlt. Der größte Unterschied zwischen Land und See bleibt dem Auge verborgen. Dieser Unterschied ist … und jetzt passt gut auf …«
    Während Babu Nob Kissin dolmetschte, beugte sich der Kapitän vor und legte seine Peitsche und beide Hände auf die Nagelbank.
    »Der Unterschied ist, dass die Gesetze, die ihr vom Land kennt, auf See nicht gelten. Auf See herrscht ein anderes Gesetz, und ihr solltet wissen, dass auf diesem Schiff das Gesetz ganz allein von mir ausgeht. Solange ihr auf der Ibis seid und die Ibis auf

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