Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
See ist, bin ich euer Schicksal, eure Vorsehung, euer Gesetzgeber. Dieser chābuk, den ich hier in der Hand halte, ist mein Gesetzeshüter. Aber er ist nicht der einzige. Es gibt noch einen.«
    Hier bog der Kapitän die Peitsche so, dass die Schnüre zusammen mit dem Griff eine Schlinge bildeten.
    »Das hier ist mein zweiter Gesetzeshüter, und ihr solltet keinen
Moment daran zweifeln, dass ich nicht zögern werde, davon Gebrauch zu machen, sollte es sich als notwendig erweisen. Aber denkt immer daran: Die besten Gesetzeshüter sind Gehorsam und Unterwerfung. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Schiff nicht von eurer Heimat, euren Dörfern. Solange ihr an Bord seid, müsst ihr Singh gehorchen, so wie ihr euren Zamindars gehorchen würdet und so wie Bhairo Singh mir gehorcht. Er kennt eure Gewohnheiten und Überlieferungen, und solange wir auf See sind, ist er für euch Mutter und Vater zugleich, genau wie ich es für ihn bin. Ihr solltet wissen, dass ihr es nur seiner Fürsprache zu verdanken habt, dass ihr heute nicht bestraft werdet; er hat für euch um Gnade gebeten, weil ihr neu auf dem Schiff seid und die Regeln noch nicht kennt. Aber ihr solltet auch wissen: Der nächste Aufruhr wird ernste Konsequenzen haben, und zwar für jeden, der daran teilnimmt; jeder, der mit dem Gedanken spielt, Ärger zu machen, sollte wissen, dass es dies ist, was ihn erwartet …«
    Die Peitsche entrollte sich, und im nächsten Moment zerriss ein Knall wie ein Donnerschlag die überhitzte Luft.
    Trotz der Gluthitze hatten die Worte des Kapitäns Paulette im Innersten frösteln lassen. Sie sah sich um: Viele der Girmitiyas waren in Furcht erstarrt. Es war, als sei ihnen erst jetzt bewusst geworden, dass sie nicht nur ihre Heimat hinter sich ließen und sich aufs Schwarze Wasser hinauswagten, sondern in der nächsten Zeit auch unter der Drohung von Peitsche und Strang würden leben müssen. Ihre Blicke irrten zu der nahen Insel hin; sie war so nahe, dass die Versuchung fast unwiderstehlich war. Als ein Mann mit angegrautem Haar zu lallen anfing, spürte sie instinktiv, dass er den Kampf gegen den Sog des Landes bereits verloren hatte. Obwohl vorgewarnt, schrie sie als eine der Ersten auf, als der Mann plötzlich herumfuhr, einen Laskaren beiseitestieß und über Bord sprang.

    Die Silahdars riefen »Mann über Bord!«, und die Girmitiyas, von denen die meisten nicht wussten, was passiert war, gerieten in Panik. Zwei weitere Auswanderer nutzten das allgemeine Durcheinander und sprangen über das Schanzkleid.
    Nun gerieten die Wachen ihrerseits in Panik und fingen an, die Männer mit ihren Stöcken aufs Vorschiff zurückzutreiben. Die allgemeine Konfusion steigerte sich noch, als die Laskaren, die das Beiboot zu Wasser lassen wollten, die Persennings abrissen und das Boot kippten: Eine gackernde Hühnerschar ergoss sich über das Deck, und auf alle, die in der Nähe standen, regnete eine Wolke von Hühnerdreck, Federn und Körnern nieder.
    Paulette beugte sich über das Schanzkleid und sah, dass einer der drei Männer bereits untergegangen war; die anderen beiden kämpften offenbar gegen eine Strömung an, die sie aufs offene Meer hinaustrieb. Schon sammelten sich zahlreiche Vögel über den Schwimmern und stießen von Zeit zu Zeit herab, als wollten sie nachsehen, ob die Männer noch am Leben waren. Nach wenigen Minuten waren die Köpfe der Schwimmenden nicht mehr zu sehen, aber die Vögel zogen weiter geduldig ihre Kreise und warteten darauf, dass die Leichen wieder auftauchten. Daran, dass sie sich immer weiter entfernten, war zu erkennen, dass die Toten von der ablaufenden Flut aufs offene Meer hinausgetragen wurden. Als dann endlich Wind aufkam, hatte die Mannschaft keine Eile, die Segel zu setzen: Die Aussicht darauf, an den verstümmelten Leichen vorbeizukommen, jagte den Männern unsägliche Angst ein.

NEUNZEHNTES KAPITEL
    A m nächsten Morgen wurde die Ibis unter einem Himmel voller Schäfchenwolken von Wogen und Böen erfasst und begann, übermütig zu stampfen. Viele der Girmitiyas hatten sich schon auf dem Hooghly ab und zu unwohl gefühlt, denn selbst wenn der Schoner friedlich dahinglitt, war er noch immer weit lebhafter als die langsamen Flussschiffe, die man gewöhnt war. Als er nun unter vollen Segeln in unruhige Gewässer vordrang, verfielen viele in kindliche Hilflosigkeit.
    Um auf den Ausbruch der Seekrankheit vorbereitet zu sein, hatte man etliche Eimer und Holzkübel im Zwischendeck verteilt. Eine Zeit lang

Weitere Kostenlose Bücher