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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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befanden, waren diese sechzigtausend Prinzen auch für ihre Dreistigkeit bestraft worden: Ein einziger Blick aus den brennenden Augen des Weisen hatte sie zu Asche verbrannt; und hier hatte ihre gottlose Asche gelegen, bis ein anderer Spross ihrer Dynastie, der gute König Bhagiratha, die Ganga überreden konnte, vom Himmel zu stürzen und die Meere zu füllen.
So wurde die Asche der sechzigtausend Ikshvaku-Prinzen aus der Unterwelt erlöst.
    Die Zuhörer waren verblüfft – nicht so sehr über die Geschichte, sondern über Nil selbst. Wer hätte gedacht, dass dieser verdreckte Sträfling so viel zu erzählen hatte und so vieler Zungen mächtig war? Dass er sogar eine Sprache sprach, die ihrem Bhojpuri recht nahekam! Wenn eine Krähe begonnen hätte, ein kajri zu singen, die Verwunderung der Auswanderer hätte nicht größer sein können.
    Auch Diti war wach geblieben und hörte zu, doch fand sie nur wenig Trost in der Geschichte. »Ich bin froh, wenn wir endlich hier wegkommen«, flüsterte sie Kalua zu. »Es gibt nichts Schlimmeres, als hier zu sitzen und das Gefühl zu haben, dass das Land uns zurückzieht.«

    Im Morgengrauen verabschiedete sich Zachary mit unerwartetem Bedauern von Mr. Doughty, der jetzt mit seinen Männern wieder an Land ging. Als der Lotse von Bord war, mussten nur noch einige Vorräte ergänzt werden, bevor man Anker lichten und in See gehen konnte. Der Proviant war rasch beschafft, denn der Schoner wurde von einer Flottille von Bumbooten belagert: mit Kohl beladene Coracles, Dhonis mit Obst und Machhvas, die Ziegen, Hühner und Enten feilboten. Auf diesem schwimmenden Basar gab es alles, was ein Schiff oder ein Laskare benötigen mochte: Segeltuch vom Ballen, Reserve-Blöcke und - zamburas , Rollen von istingis und rup-yan , Stapel von sitalpatti -Matten, Tabak, Bündel von Niembaumzweigen zum Zähneputzen, Gläser voll Isabgol gegen Verstopfung und Krüge mit Kolombo-Wurzel gegen die Ruhr. Auf einem unansehnlichen Gordower war sogar ein Ofen in Betrieb, auf dem ein Zuckerbäcker frische jalebīs briet. Angesichts so vieler Händler, die man gegeneinander ausspielen
konnte, brauchten Steward Pinto und die Smutjes nicht lange, um alles zu erstehen, was an Vorräten noch benötigt wurde.
    Gegen Mittag waren die Anker des Schoners gelichtet, und die Vortoppmänner standen bereit, die Taljen zu bedienen, doch der Wind, der schon den ganzen Vormittag abgeflaut war, suchte sich, so meinten jedenfalls die Tindals, genau diese Stunde aus, um vollends einzuschlafen. Vollständig getakelt und mit tatendurstiger Mannschaft dümpelte die Ibis auf einer spiegelglatten See. Bei jedem Wachwechsel musste ein Mann aufentern mit der Anweisung, sofort Alarm zu geben, falls sich auch nur das leiseste Lüftchen regte. Aber Stunde um Stunde verging, und der Serang bekam auf seinen Ruf »havā « immer die gleiche verneinende Antwort: »Kuchho nahi. «
    In der prallen Sonne und ohne die geringste kühlende Brise heizte sich der Rumpf des Schoners dermaßen auf, dass es den Auswanderern unten im Zwischendeck vorkam, als würde ihnen das Fleisch von den Knochen schmelzen. Um wenigstens etwas Luft hineinzulassen, entfernten die Mistris den hölzernen Lukendeckel und ließen nur das Gitter auf der Öffnung. Aber bei der herrschenden Windstille gelangte nicht einmal eine Mützevoll frische Luft unter Deck. Dafür stieg aber durch das Eisengitter der Gestank aus dem Zwischendeck langsam himmelwärts und lockte Milane, Geier und Möwen an. Einige kreisten gemächlich über dem Schiff, als warteten sie auf Aas, andere ließen sich auf den Rahen und Wanten nieder, kreischten wie Hexen und besprenkelten das Deck mit ihrem Kot.
    Die Girmitiyas kannten noch nicht die Vorschriften für die Rationierung des Trinkwassers. Das System war noch nicht erprobt worden, und als es jetzt zusammenbrach, löste sich auch die Ordnung auf, die bislang im Zwischendeck geherrscht
hatte. Bis zum frühen Nachmittag waren die zugeteilten Wasserrationen so geschrumpft, dass die Männer sich um die Krüge prügelten, die noch ein paar Tropfen enthielten. Von Jhugru angestachelt, stiegen fünf oder sechs Auswanderer die Treppe hinauf und trommelten gegen das Lukengitter: »Wasser! He, ihr da oben. Unsere gharās sind leer.«
    Als die Mistris kamen und das Gitter hochhoben, brach fast eine Panik aus: Dutzende von Männern wollten an Deck, doch die Luke war so eng, dass jeweils nur einer hindurchpasste, und jeder Kopf, der nach oben kam, war für

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