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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Schiffes geachtet; Masten, Segel und Takelage waren ihr wie ein einziger Wirrwarr aus Leinen und Tauen, Segeltuch und Blöcken erschienen. Jetzt sah sie, dass das Bugspriet – es sah aus wie eine bloße Verlängerung der ornamentalen Galionsfigur des Schoners – in Wirklichkeit eine Art dritter Mast war, einer, der fast waagerecht übers Wasser ragte. Wie die beiden Masten war es mit einer Verlängerung ausgestattet, dem Klüverbaum, und alles zusammen stand gute dreißig Fuß über den Vorsteven hinaus. Am Klüverbaum waren drei Stagsegel befestigt, und das vorderste, der Außenklüver, hatte sich irgendwie verheddert. Dorthin wollte Jodu sich vorarbeiten: bis ganz zur Spitze des Klüverbaums.
    Die Ibis erklomm gerade eine Woge, und so führte der erste Teil seiner Reise Jodu bergan: Er zog sich an dem zum Himmel zeigenden Mast hoch. Als der Wogenkamm jedoch weitergewandert war, ging die Kletterpartie abwärts – der Klüverbaum zeigte nach unten. Jodu erreichte den Außenklüver genau in dem Moment, als die Ibis ins Wellental sank, mit solchem Schwung, dass Jodu, der sich anklammerte wie eine Seepocke am Kopf eines abtauchenden Wals, unter Wasser geriet, tiefer und tiefer. Das Weiß seiner baniyāin verschwamm, und als das Wasser das Bugspriet überspülte und über das Schanzkleid schwappte, verschwand es schließlich ganz. Paulette hielt die Luft an, als Jodu unterging, aber er
blieb so lange weg, dass sie wieder atmen musste – und noch einmal atmen musste –, ehe die Ibis ihren Bug wieder aus dem Wasser hob und die nächste Woge erklomm. Das Bugspriet tauchte wieder auf, und Jodu lag flach darauf, Arme und Beine fest um das Rundholz geschlungen. Am Ende seiner Bahn schnellte der Klüverbaum wieder in die Höhe, als wollte er seinen Reiter in die Segeltuchwolken über ihm katapultieren. Wasser spritzte am Bugspriet auf und durchnässte viele der Zuschauer, die sich am Bug drängten. Paulette bemerkte es kaum; sie wollte nur wissen, ob Jodu noch am Leben war, ob er sich noch halten konnte – würde er nach einer solchen Tauchfahrt nicht alle Kraft, die ihm noch blieb, brauchen, um zurück an Deck zu klettern?
    Unterdessen zog Zachary sein Hemd aus. »Zum Teufel mit Ihnen, Mr. Crowle! Ich steh hier nicht rum und schau zu, wie wir einen Mann verlieren.«
    Der Schoner erklomm von Neuem eine Welle, Zachary sprang auf das Bugspriet und arbeitete sich zu Jodu vor, und die Spitze des Klüverbaums war noch nicht wieder eingetaucht, als er den Stampfstock passierte. In den wenigen Sekunden, die das Vorschiff noch aus dem Wasser ragte, kappten er und Jodu fieberhaft Leinen und sicherten die umherschlagenden Blöcke. Dann ging es wieder abwärts, und beide Männer drückten sich flach auf den Baum, nur waren ihren Händen jetzt so viele Taue und so viel Segeltuch im Weg, dass es unmöglich schien, festen Halt zu finden.
    »Hāy rām! « Ein vielstimmiger Schrei stieg aus der Menge der Auswanderer auf, als der Klüverbaum wieder ins Wasser tauchte und Zachary und Jodu mit hinabnahm. Plötzlich wurde Paulette bewusst, dass das Meer nun jene beiden Menschen in seinen Fängen hielt, die ihr auf der Welt am wichtigsten waren, und sie erschrak zu Tode. Sie konnte nicht länger
hinsehen. Ihr Blick wanderte zu Mr. Crowle. Auch er starrte auf das Bugspriet, und zu ihrer Verwunderung sah sie, dass sein sonst so hartes, finsteres Gesicht so bewegt war wie die See und von widerstreitenden Gefühlen aufgewühlt wurde. Doch dann zog ein Jubelruf – Jai Siyá Rám – ihre Augen zum Bug zurück, wo die beiden Männer wieder aus dem Wasser auftauchten.
    Tränen der Erleichterung stürzten ihr aus den Augen, als Zachary und Jodu rückwärts vom Bugspriet rutschten und wohlbehalten auf dem Deck aufkamen. Wie es der Zufall wollte, landeten Jodus Füße dicht vor ihr, und da konnte sie nicht anders, sie musste einfach etwas sagen. Wie von selbst hauchten ihre Lippen seinen Namen: »Jodu!«
    Seine Augen weiteten sich, als er sich umdrehte und ihren verschleierten Kopf sah. Sie warnte ihn mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung, die aber – wie in ihrer beider Kindheit – genügte. Jodu war keiner, der Geheimnisse preisgab. Sie senkte den Kopf, schlüpfte davon und nahm ihre Arbeit wieder auf.
    Erst als sie die Speigatten verließ, um die Wäsche an den Achterwanten aufzuhängen, sah sie ihn wieder. Er hatte einen Ruderzapfen in der Hand und pfiff lässig vor sich hin. Als er an Paulette vorbeikam, fiel der Zapfen zu Boden, und er

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