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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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sie mehr, nach anderer Billigung zu streben als der ihres Verlangens. Wie sollte man ohne Eltern oder Alte, die über solche Dinge entschieden, wissen, welcher der richtige Weg war, eine Verbindung einzugehen? Und hatte Diti anfangs nicht selbst gesagt, sie alle seien nun Geschwister, ihre Wiedergeburt im Bauch des Schiffes habe sie zu einer einzigen großen Familie gemacht? So war es auch, nur war diese Familie noch nicht so weit, dass ihre Mitglieder Entscheidungen füreinander hätten treffen können. Hiru würde ihre Entscheidung allein treffen müssen.

    In den letzten Tagen hatte Zachary oft an Kapitän Chillingworths Bericht über den weißen Ladron denken müssen. Bei dem Versuch, die Einzelteile der Geschichte zusammenzufügen, hatte Zachary jeden möglichen Zweifel erwogen, der zu Serang Alis Gunsten sprechen konnte, doch trotz allem wurde er den Verdacht nicht los, dass der Serang ihn, Zachary, darauf hatte vorbereiten wollen, in Danbys Fußstapfen zu treten. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, und er hätte die Angelegenheit
gern mit jemandem besprochen. Aber mit wem? Den Ersten Steuermann einzuweihen, kam nach Lage der Dinge nicht infrage, und so beschloss er, den Kapitän ins Vertrauen zu ziehen.
    Es war der elfte Tag der Ibis auf See, und als die Sonne sank, erschienen lang gestreckte Federwolken am Himmel. Schon bald wurden Schäfchenwolken daraus, und der Schoner musste aufkreuzen. Bei Sonnenuntergang änderte sich auch der Wind, und die Ibis wurde von starken Böen aus wechselnden Richtungen gebeutelt, die manchmal mit lautem Knall ein Segel backschlagen ließen.

    Mr. Crowle hatte die erste Abendwache, und Zachary wusste, dass er bei dem schweren Wetter die ganze Zeit an Deck beschäftigt sein würde. Um jedoch ganz sicherzugehen, dass er ihm nicht in die Quere kommen würde, wartete er bis zum zweiten Blasen der Wache und ging erst dann durch die Messe zur Kapitänskajüte. Er musste zweimal anklopfen, bevor der Kapitän antwortete: »Jack?«
    »Nein, Sir. Ich bin’s, Reid. Hätten Sie wohl Zeit für eine kurze Unterredung? Unter vier Augen?«
    »Kann das nicht warten …?«
    »Also …«
    Eine Pause trat ein, dann hörte er ein ärgerliches Schnauben. »Na gut, meinetwegen. Aber Sie werden noch für ein Weilchen die Riemen einlegen müssen.«
    Ein paar Minuten vergingen, dann noch einige. Durch die geschlossene Tür hörte Zachary, wie der Kapitän herumtappte und Wasser in ein Becken laufen ließ. Er setzte sich an den Tisch in der Messe, und nach gut zehn Minuten ging die Tür endlich auf und Kapitän Chillingworth erschien in der Öffnung. Im Licht der Deckenlaterne in der Messe sah Zachary,
dass er ein ungewöhnlich prächtiges Gewand trug, eine altmodische baniyāin – nicht das gestreifte Seemannshemd, das man neuerdings darunter verstand, sondern ein weites, knöchellanges, kunstvoll besticktes Gewand von der Art, die englische Nabobs vor einer Generation in Mode gebracht hatten.
    »Herein mit Ihnen, Reid!« Obwohl der Kapitän es vermied, sein Gesicht ins Licht zu halten, merkte Zachary, dass er sich frisch gemacht hatte, denn in den Falten seiner Hängebacken und seinen buschigen grauen Augenbrauen hingen noch kleine Wassertropfen. »Und schließen Sie bitte die Tür.«
    Zachary war noch nie in der Kapitänskajüte gewesen. Offenbar hatte der Kapitän in aller Eile aufgeräumt, denn über die Koje war achtlos eine Decke geworfen, und im Waschbecken stand ein Krug mit der Öffnung nach unten. Die Kajüte hatte zwei Bullaugen, beide geöffnet, doch trotz der frischen Brise hing ein rauchiger Geruch im Raum.
    Der Kapitän stand neben einem der Bullaugen und atmete tief, als müsste er seine Lunge reinigen. »Sie wollen mir was über Crowle erzählen, stimmt’s? Früher oder später tun das alle. Stimmt’s, Reid?«
    »Also eigentlich, Sir …«
    Der Kapitän hörte offenbar nicht zu, denn er redete ohne Unterbrechung weiter: »Ich habe von dem Vorfall mit dem Klüverbaum gehört, Reid. Aber ich würde an Ihrer Stelle kein Aufhebens davon machen. Crowle ist ein knorriger alter Knabe, gewiss, aber lassen Sie sich von seinem schroffen Gehabe nicht täuschen. Glauben Sie mir, er fürchtet Sie mehr als Sie ihn. Und das mit gutem Grund: Sicher, auf See sitzen wir mit ihm an einem Tisch, aber er weiß genau, dass Sie ihn an Land nicht einmal als Stallburschen beschäftigen würden. So etwas kann einen Mann mürbe machen, wissen Sie. Sich zu fürchten und gefürchtet zu werden – was anderes

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