Das mohnrote Meer - Roman
krabbelte auf allen vieren umher, als jagte er ihm über das schräg geneigte Deck nach.
»Putli?«, zischte er. »Bist du’s wirklich?«
»Wer denn sonst? Ich hab doch gesagt, ich fahre mit.«
Er ließ ein unterdrücktes Lachen hören. »Ich hätte es wissen müssen.«
»Zu niemandem ein Wort, Jodu.«
»In Ordnung. Aber nur, wenn du ein gutes Wort für mich einlegst.«
»Bei wem?«
»Bei Munia«, flüsterte er im Aufstehen.
»Bei Munia! Lass sie in Ruhe, Jodu, du bringst dich nur in Schwierigkeiten …«
Doch die Warnung verhallte ungehört, denn Jodu war schon weg.
ZWANZIGSTES KAPITEL
W ar es das Leuchten von Ditis Schwangerschaft? Oder war es ihr Sieg über die Mistris? Jedenfalls gingen immer mehr Auswanderer dazu über, sie bhaujī zu nennen, als wäre sie in allgemeinem Einvernehmen zur Schirmherrin des Laderaums bestimmt worden. Sie selbst machte sich weiter keine Gedanken darüber; was sollte sie schon tun, wenn alle sie wie die Frau des älteren Bruders behandeln wollten? Hätte sie sich klargemacht, welche Verantwortung damit verbunden war, jedermanns bhaujī zu sein, sie hätte vielleicht weniger unbekümmert reagiert. So aber fühlte sie sich etwas überrumpelt, als Kalua ihr sagte, es habe ihn jemand angesprochen, der sie in einer ernsten und wichtigen Angelegenheit um ihren Rat bitten wolle.
»Warum mich?«, fragte sie beunruhigt.
»Wen sonst als die bhaujī? «, erwiderte er lächelnd.
»Na, gut. Also sag: Wer? Was? Warum?«
Es handle sich um Ecka Nack, sagte Kalua, den Anführer der Gruppe von Bergbewohnern, die in Sahibganj zu den Girmitiyas gestoßen waren. Diti kannte ihn vom Sehen: ein krummbeiniger, muskulöser Mann, vermutlich nicht älter als fünfunddreißig, aber mit dem grauen Haar und der nachdenklichen Miene eines Dorfältesten.
»Was will er?«, fragte Diti.
»Er will wissen, ob Hiru bereit wäre, einen Hausstand mit ihm zu gründen, wenn wir in Marich sind.«
»Hiru?« Diti war so überrascht, dass sie eine ganze Weile nichts sagen konnte. Sie hatte – und wer hätte das nicht? – die hungrigen Blicke natürlich bemerkt, die jede Frau auf dem Schiff auf sich zog. Aber nie hätte sie gedacht, dass ausgerechnet Hiru – die arme, einfältige Hiru, die mehr oder weniger zufällig zur Girmitiya geworden war, nachdem ihr Mann sie auf einem Viehmarkt ihrem Schicksal überlassen hatte – als Erste ein ernst gemeintes Angebot erhalten würde.
Und noch etwas stellte sie vor ein Rätsel. Wenn dieses Angebot wirklich ernst gemeint war, welchen Zweck verfolgte Ecka Nack dann damit? Doch wohl keine Heirat? Hiru war nach eigener Aussage eine verheiratete Frau, deren Mann noch lebte, und zweifellos hatte auch Ecka Nack in den Bergen von Chhota Nagpur eine oder zwei Frauen. Diti versuchte sich sein Dorf vorzustellen, aber als Flachländerin hegte sie ein solches Grauen vor den Bergen, dass sie nur schaudern konnte. Zu Hause wäre die Verbindung undenkbar gewesen, aber was spielte es in Marich für eine Rolle, ob man aus den Bergen oder der Ebene kam? Wenn Hiru sich mit dem Mann zusammentat, dann war das nichts anderes als das, was Diti selbst getan hatte. Waren die alten Bindungen jetzt, da das Meer die Vergangenheit fortgespült hatte, nicht bedeutungslos geworden?
Wäre es nur so gewesen!
Wenn das Schwarze Wasser die Vergangenheit wirklich auslöschen konnte, warum hörte Diti dann in ihrem Kopf noch immer Stimmen, die sie dafür verurteilten, dass sie mit Kalua geflohen war? Warum wusste sie dann, dass sie, sosehr sie es auch versuchte, niemals imstande sein würde, die Einflüsterungen zum Schweigen zu bringen, die ihr sagten, dass sie für das, was sie getan hatte, leiden würde – nicht heute oder morgen, aber kalpas und yugas hindurch, Leben um Leben, bis
in alle Ewigkeit. Auch jetzt vernahm sie dieses Murmeln wieder, das sie fragte: Soll Hiru das gleiche Schicksal erleiden?
Bei dem Gedanken stöhnte sie missmutig auf. Mit welchem Recht stürzte man sie in diesen Wirrwarr? Wer war Hiru schon für sie? Weder eine Tante noch eine Cousine oder Nichte. Wieso sollte sie, Diti, die Last ihres Schicksals auf sich nehmen?
Doch trotz ihres Grolls über die Zumutung musste sie anerkennen, dass Ecka Nack aus seiner Sicht richtig und ehrenwert handelte. Jetzt, da sie alle von ihrer Heimat abgeschnitten waren, hinderte Männer und Frauen nichts mehr daran, sich insgeheim paarweise zusammenzutun, so wie man es sich von wilden Tieren, Dämonen und pishāchas erzählte. Nichts zwang
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