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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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drinnen.«

    Nachdem Zachary noch zweimal gezogen hatte, gab die Pfeife keinen Rauch mehr her.
    »Lehnen Sie sich zurück«, sagte Kapitän Chillingworth. »Spüren Sie es? Hat die Erde schon ihre Anziehungskraft auf Ihren Körper verloren?«
    Zachary nickte. Es stimmte, dass die Erdenschwere irgendwie von ihm abgefallen war. Sein Körper war federleicht. Alle Spannung war aus seinen Muskeln gewichen, sie waren so weich, so schlaff geworden, dass er gar nicht spürte, ob seine Gliedmaßen noch vorhanden waren. Es war ihm jetzt alles andere als angenehm, in einem Sessel zu sitzen; es verlangte ihn danach, sich hinzulegen, sich auszustrecken. Er streckte einen Arm aus, um das Gleichgewicht zu halten, und sah zu, wie seine Hand sich einer Blindschleiche gleich zur Tischkante schlängelte. Dann stieß er sich ab, halb und halb darauf gefasst, dass seine Beine ihm den Dienst versagen würden, doch sie trugen sein Gewicht mühelos.
    Wie aus großer Entfernung hörte er den Kapitän sagen: »Sind Sie zu beduselt, um zu gehen? Dann können Sie gern mein Bett benutzen.«
    »Bis zu meiner Kajüte sind es ja nur ein paar Schritte, Sir.«
    »Wie Sie meinen, wie Sie meinen. Der Effekt vergeht nach ein, zwei Stunden, und dann werden Sie erfrischt aufwachen.«
    »Ich danke Ihnen, Sir.« Zachary meinte zu schweben, als er sich zur Tür wandte. Er war fast dort angelangt, als der Kapitän sagte: »Moment noch, Reid – weswegen wollten Sie mich eigentlich sprechen?«
    Zachary blieb mit der Hand an der Tür stehen; zu seiner Überraschung stellte er fest, dass seine erschlafften Muskeln und seine umwölkten Sinne nicht von der geringsten Gedächtnistrübung begleitet wurden. Eher schien es ihm, als sei sein Geist unnatürlich wach. Er erinnerte sich nicht nur, dass
er mit dem Kapitän über Serang Ali hatte sprechen wollen, sondern begriff auch, dass das Opium ihn davor bewahrt hatte, den Weg eines Feiglings einzuschlagen. Denn nun wusste er, dass alles, was zwischen ihm und dem Serang abgelaufen war, ganz allein zwischen ihnen beiden geklärt werden musste. Lag es daran, dass der Rauch ihm ein klareres Bild von der Welt vermittelt hatte? Oder daran, dass er ihm Bereiche seiner selbst geöffnet hatte, in die er sich noch nie vorgewagt hatte? Wie auch immer – er sah jetzt ein, wie selten, schwierig und unwahrscheinlich es war, dass zwei Menschen aus verschiedenen Welten durch ein Band reiner Sympathie vereint sein konnten, ein Gefühl, das keine Rücksicht auf die Regeln und Erwartungen anderer nahm. Und er begriff, dass dort, wo ein solches Band geknüpft wurde, dessen Wahrheiten und Irrtümer, Verpflichtungen und Vorrechte nur für die Menschen existieren, die es verbindet, und auch dies in der Weise, dass nur sie selbst beurteilen können, wie ehrenhaft oder ehrlos sie sich zueinander verhalten. Es war an ihm, Zachary, eine ehrenhafte Lösung für seinen Umgang mit Serang Ali zu finden. Darin würde seine Entlassung ins Erwachsensein liegen, sein Wissen um die Beständigkeit seines Kurses.
    »Ja, Reid? Weswegen wollten Sie mich sprechen?«
    »Über unsere Position, Sir. Als ich mir heute die Karten ansah, hatte ich den Eindruck, dass wir ziemlich weit nach Osten abgekommen sind.«
    Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Nein, Reid – wir sind genau dort, wo wir sein sollen. Zu dieser Jahreszeit gibt es vor den Andamanen eine Südströmung, und ich habe mir gedacht, die könnten wir ausnützen. Wir werden noch eine Zeit lang diesen Kurs halten.«
    »Ich verstehe, Sir, tut mir leid. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …«

    »Ja, gehen Sie nur, gehen Sie.«
    Beim Durchqueren der Messe verspürte Zachary keinerlei Anzeichen von Trunkenheit. Er bewegte sich langsam, aber kein bisschen unkontrolliert. In seiner Kajüte zog er baniyāin und Hose aus und legte sich in Unterwäsche in seine Koje. Er schloss die Augen und sank in einen Zustand der Ruhe, der viel tiefer war als Schlaf, aber zugleich war er wacher als sonst, und vor seinem inneren Auge zogen Formen und Farben vorüber. Diese Visionen waren außerordentlich lebhaft, aber auch ganz und gar friedvoll und von keinerlei Sinnlichkeit oder Begehren getrübt. Wie lange dieser Zustand anhielt, wusste er nicht, doch dass er zu schwinden begann, merkte er daran, dass er wieder Gesichter und Gestalten sah. Er fiel in einen Traumzustand, in dem eine Frau sich näherte und wieder entfernte. Sie verbarg ihr Gesicht und entzog sich ihm, obwohl sie ihm verlockend nahe kam. Gerade als er ein

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