Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
sie gleich sehen würden, noch zu unterstreichen, sorgten Wachen und Aufseher akribisch dafür, das jeder freie Sicht auf das rechteckige Gitter hatte, das für das Auspeitschen an der Nagelbank befestigt worden war; mit Stricken an den vier Ecken sollte Kalua an Händen und Füßen daran gefesselt werden.
    Bhairo Singh hatte sich ganz vorn niedergelassen. Er trug seine alte Regimentsuniform: einen frisch gewaschenen Dhoti und eine kastanienbraune Uniformjacke mit den Streifen eines Subedars an den Ärmeln. Während die Wachen sich um die Auswanderer kümmerten, saß er im Schneidersitz auf einem aufgeschossenen Tau, kämmte die Enden einer ledernen Peitsche
und hielt von Zeit zu Zeit inne, um sie durch die Luft knallen zu lassen. Die Girmitiyas beachtete er nicht, sie selbst aber konnten ihre Augen nicht von dem schimmernden Leder losreißen.
    Nachdem er die Peitsche einer letzten Überprüfung unterzogen hatte, erhob sich der Subedar und gab Steward Pinto ein Zeichen, die Steuerleute auf das Achterdeck zu holen. Es dauerte einige Minuten, bis die Sahibs erschienen, der Kapitän vorneweg, gefolgt von den beiden Malums. Alle drei Männer waren bewaffnet; ihre Röcke standen so weit offen, dass die Pistolengriffe im Hosenbund deutlich zu sehen waren. Wie es der Brauch wollte, nahm der Kapitän seinen Platz nicht in der Mitte des Achterdecks ein, sondern weiter luvwärts, zur Backbordseite hin. Die beiden Malums postierten sich nahe der Mitte, zu beiden Seiten des Gitters.
    Dieses ganze Geschehen war langsam und zeremoniell abgelaufen, damit den Auswanderern genug Zeit blieb, jede Einzelheit in sich aufzunehmen. Es war, als würden sie darauf vorbereitet, nicht nur Zuschauer zu sein, sondern die Schmerzen des Ausgepeitschten am eigenen Leib zu spüren. Die zeitliche Abstimmung und die schrittweise Aneinanderreihung der Details bewirkten eine Art Erstarrung – nicht so sehr aus Angst, sondern eher als kollektive Vorwegnahme –, und als Kalua schließlich zwischen ihnen hindurchgeführt wurde, war es, als würden sie alle, jeder Einzelne von ihnen, zum Auspeitschen an das Gitter gefesselt.
    In einem Punkt aber konnte sich keiner vorstellen, Kalua zu sein, und das war seine gewaltige Größe. Er war nur mit einem langot bekleidet, der straff zwischen seinen Beinen durchgezogen war, sodass sich der Peitsche die größtmögliche Fläche nackter Haut darbot. Der weiße Stoff ließ ihn noch größer erscheinen, und noch ehe er zu der Nagelbank hinaufgestiegen
war, wurde deutlich, dass das Gitter zu klein für ihn war. Sein Kopf ragte ein gutes Stück darüber hinaus, bis zum obersten Block der Bank, bis zu den Knien der Malums. Die Fesseln mussten deshalb neu angeordnet werden: Seine Füße blieben an den beiden unteren Ecken des Gitters, die Hände wurden an die Nagelbank gebunden, auf gleicher Höhe mit seinem Gesicht.
    Nachdem das geschehen und nochmals überprüft worden war, salutierte der Subedar vor dem Kapitän und verkündete, dass alles bereit sei.
    Der Kapitän antwortete mit einem Nicken und gab das Startsignal: »Los!«
    Inzwischen herrschte eine so tiefe Stille an Deck, dass der Ruf des Kapitäns im Laderaum deutlich zu hören war, ebenso die Schritte des Subedars, als er für seinen Anlauf Maß nahm. »Herām, hamre bachāo! «, stöhnte Diti. Paulette und die anderen Frauen kauerten dicht bei ihr und hielten sich die Ohren zu, um das Knallen der Peitsche nicht zu hören – vergeblich, wie sich zeigte, denn es blieb ihnen nichts erspart: weder das Pfeifen des Leders, als es durch die Luft sauste, noch das widerwärtige Klatschen, mit dem es in Kaluas Fleisch schnitt.
    Auf dem Achterdeck stand Zachary so nahe bei Kalua, dass er den Peitschenhieb durch seine Fußsohlen hindurch spürte. Gleich darauf traf ihn etwas an der Wange, und er fuhr mit dem Handrücken darüber: Es war Blut. Ekel überkam ihn, und er trat einen Schritt zurück.
    Mr. Crowle, der ihn beobachtet hatte, lachte in sich hinein. »Tja, da spritzt der Bratensaft, was, Grünschnabel«, sagte er.

    Mit dem Schwung seines Arms war Bhairo Singh Kalua so nahe gekommen, dass er sehen konnte, wie der Striemen auf dessen Haut anschwoll. In wilder Genugtuung flüsterte er
ihm ins Ohr: »Kuttā! Das hast du dir selbst eingebrockt, du Aasfresser! Du bist ein toter Mann, noch ehe ich mit dir fertig bin.«
    Kalua konnte ihn trotz des Summens in seinem Kopf deutlich hören und flüsterte zurück: »Malik – was habe ich Ihnen getan?«
    Die Frage – und

Weitere Kostenlose Bücher