Das mohnrote Meer - Roman
auch der bestürzte Ton, in dem sie gestellt wurde – brachte Bhairo Singh noch mehr in Rage. »Getan? Ist es denn nicht genug, dass du bist, was du bist?«
Diese Worte hallten in Kaluas Kopf wieder, als sich der Subedar entfernte, um zum zweiten Mal Anlauf zu nehmen. »Ja, was ich bin, ist genug … genug für dieses Leben und das nächste … das Gleiche werde ich wieder durchleben, immer und immer wieder …« Doch während er noch Bhairo Singhs Stimme nachlauschte, zählte ein anderer Teil seines Gehirns die Schritte des Subedars, die Sekunden bis zum nächsten Hieb. Als sich die Peitsche in sein Fleisch grub, war der Schmerz so heftig, so vernichtend, dass sein Kopf zur Seite auf sein Handgelenk sackte und seine Lippen den rauen Strick berührten. Um sich nicht auf die Zunge zu beißen, schloss er die Zähne darum, und als der nächste Schlag kam, biss er eine der vier Windungen, mit denen seine Hand gefesselt war, vor Schmerz glatt durch.
Wieder war die Stimme des Subedars in seinem Ohr, ein höhnisches Flüstern: »Einen Betrüger zu töten ist keine Sünde …«
Auch diese Worte hallten in Kaluas Kopf wider, und jede Silbe markierte einen Schritt des Subedars, als er zurückging, sich dann umdrehte und wieder heranstürmte, bis die Peitsche von Neuem wie Feuer auf Kaluas Rücken brannte. Auch diesmal biss er eine Windung des Seils durch. Dann begann alles von vorn, das Zählen der Silben, das Knallen der Peitsche, das
Zusammenbeißen der Zähne – wieder und wieder, bis nur noch wenige Fäden sein Handgelenk hielten.
Inzwischen hatte sich das Trommeln in seinem Kopf so präzise den Schritten des Subedars angepasst, dass er genau wusste, wann die Peitsche wieder durch die Luft sausen würde, und auch, wann er seine Hand losreißen musste. Als der Subedar herangestürmt kam, drehte er den Oberkörper nach hinten und packte die Peitsche mitten in der Luft. Eine knappe Bewegung seines Handgelenks, und sie sauste zurück und schlang sich um Bhairo Singhs Stiernacken. Dann zog Kalua sie mit einem einzigen, fließenden Armschwung fest und riss mit einem so gewaltigen Ruck daran, dass der Subedar, noch ehe irgendjemand einen Schritt tun oder einen Laut von sich geben konnte, mit gebrochenem Genick tot auf den Planken lag.
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
D ie Frauen im Laderaum hielten den Atem an. Bis jetzt war auf Bhairo Singhs hämmernden Anlauf jedes Mal der zermürbende Knall der Peitsche auf Kaluas Rücken gefolgt, doch diesmal wurde der Rhythmus unterbrochen, bevor er seinen Höhepunkt erreichte. Es war, als hätte eine unsichtbare Hand den Donner erstickt, der auf den Blitz folgt. Dann zerriss nicht das Geräusch, das sie erwartet hatten, die Stille, sondern ein vielstimmiger Aufschrei, als wäre eine Woge auf das Schiff niedergekracht und hätte es ins Chaos gestürzt. Schreie, Rufe und Fußgetrappel vermischten sich und nahmen an Lautstärke zu, bis sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. Wieder wurde der Laderaum zu einer riesigen Trommel, geschlagen von panischen Männerfüßen oben und wütenden Wogen unten. Für die Frauen klang es, als ginge das Schiff unter und das Mannsvolk kämpfte sich in die Boote und überließe sie dem Ertrinken. Sie liefen zur Treppe und kletterten zu dem verschlossenen Ausgang hinauf, und als die erste ihn erreichte, wurde die Luke aufgerissen. Vor dem eindringenden Wasser, das sie erwarteten, sprangen sie von der Treppe, doch es ergoss sich kein Sturzbach durch die Öffnung, sondern einer der Auswanderer kam herabgetaumelt, dann noch einer und noch einer, alle auf der Flucht vor den Stockhieben der Silahdars. Die Frauen fielen über sie her, rüttelten sie aus ihrer Erstarrung, wollten wissen, was geschehen war.
»Kalua hat Bhairo Singh getötet …«
»Mit seiner eigenen Peitsche …«
»Hat ihm das Genick gebrochen …
»Und jetzt werden die Silahdars sich rächen …«
Alle redeten durcheinander, und es war schwer herauszufinden, was an den Berichten stimmte und was nicht. Ein Mann sagte, die Silahdars hätten Kalua bereits getötet, ein anderer bestritt das und meinte, er lebe noch, sei aber übel zugerichtet. Immer mehr Männer kamen herab, und jeder hatte noch etwas hinzuzufügen, etwas anderes zu erzählen, sodass Diti sich fast vorkam, als befände sie sich selbst auf dem Hauptdeck und sähe alles mit eigenen Augen: wie Kalua von dem Gitter losgeschnitten und von den wütenden Wachen weggeschleppt wurde, wie der Kapitän, von den beiden Malums
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