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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Ihretwegen an Bord, Mr. Reid. Ich habe das alles ganz allein für mich getan. Es war imperativ für mich, Kalkutta zu verlassen – die Gründe sind Ihnen ja wohlbekannt. Es war meine einzige Fluchtmöglichkeit, und ich habe nichts getan, was meine Großtante, Madame Commerson, nicht auch getan hätte.«
    »Ihre Großtante, Miss Lambert?«, sagte Zachary bissig. »Die haben Sie weit übertroffen! Sie haben bewiesen, dass Sie es mit
jedem Chamäleon aufnehmen können. Sie haben die Kunst der Verstellung offenbar so vervollkommnet, dass sie Ihnen zur zweiten Natur geworden ist.«
    Paulette begriff nicht, wie diese Begegnung, auf die sie so große Hoffnungen gesetzt, der sie mit so viel Gefühl entgegengesehen hatte, in ein so hässliches Gefecht hatte ausarten können. Aber sie war kein Mensch, der vor einer Herausforderung zurückwich, und ehe sie sich’s versah, war ihre Antwort schon heraus: »O Mr. Reid, Sie tun mir zu viel der Ehre an! Wenn es darum geht, sich für jemand anderen auszugeben, dann sind Sie mir doch haushoch überlegen!«
    Eine seltsame Stille breitete sich in der Kajüte aus, trotz des heulenden Windes und der tosenden Wellen. Zachary schluckte und räusperte sich. »Sie wissen es also?« Wäre seine Hochstapelei vom Großmast herab verkündet worden, er hätte sich nicht noch mehr bloßgestellt, nicht noch mehr wie ein Scharlatan fühlen können.
    »O verzeihen Sie!« – fast versagte ihr die Stimme –, »verzeihen Sie mir, ich wollte nicht …«
    »Ich auch nicht, Miss Lambert, ich wollte Sie nicht täuschen, was meine Rasse angeht. Die wenigen Male, die wir miteinander sprechen konnten, habe ich es anzudeuten – nein, ich habe es Ihnen zu sagen versucht, glauben Sie mir.«
    »Was spielt das schon für eine Rolle, Mr. Reid?« In einem verspäteten Versuch, die Scharte auszuwetzen, schlug Paulette einen sanfteren Ton an. »Ist nicht jedes äußere Erscheinungsbild trügerisch? Was in uns ist, ob gut oder schlecht oder keins von beidem: Wird es nicht so bestehen bleiben, wie es ist, unabhängig vom Stoff unserer Kleider oder der Farbe unserer Haut? Was, wenn die ganze Welt eine duperie ist, Mr. Reid, und wir sind die Ausnahmen von ihren Lügen?«
    Zachary schüttelte verächtlich den Kopf; Paulettes Worte
waren in seinen Augen nichts weiter als ein schwacher Beschönigungsversuch. »Ich fürchte, Miss Lambert, ich bin zu einfach gestrickt, als dass ich solche Feinheiten verstehen könnte. Ich muss Sie bitten, deutlicher zu werden. Sagen Sie mir doch eins: Warum haben Sie sich entschlossen, sich mir zu erkennen zu geben? Warum gerade jetzt? Doch wohl nicht, um unsere Komplizenschaft kundzutun?«
    »Nein, Mr. Reid, das hatte einen ganz anderen Grund. Sie müssen wissen, dass ich um anderer willen gekommen bin, unserer gemeinsamen Freunde …«
    »Darf ich fragen, wen Sie meinen?«
    »Serang Ali zum Beispiel.«
    Zachary bedeckte seine Augen mit den Händen. Nichts hätte ihn in diesem Moment noch stärker demütigen können als die Erwähnung des Mannes, in dem er einmal seinen Mentor gesehen hatte. »Jetzt ist mir alles klar, Miss Lambert«, sagte er. »Ich weiß, wie Sie von meiner Abstammung erfahren haben. Aber sagen Sie, war es Serang Alis Idee oder Ihre, mich damit zu erpressen?«
    »Erpressen? Pfui, Mr. Reid! Schämen Sie sich!«

    Der Sturm blies so heftig, dass Babu Nob Kissin sich nicht aufrecht über das glitschige Deck wagte. Zum Glück hatte er sein Logis von der Mittschiffskajüte ins Deckshaus verlegt, sonst hätte er einen viel längeren Weg zum Vorschiff gehabt. Aber auch so erschien ihm die Strecke endlos, viel zu lang, als dass er sie auf den Füßen hätte zurücklegen können. Im Schutz des Schanzkleides robbte er deshalb auf allen vieren langsam zur Back.
    Das Luk, das dort hinabführte, war fest verschlossen, doch schon auf sein erstes Klopfen wurde es geöffnet. Eine Lampe schwang in dem Raum hin und her und beleuchtete die Gesichter Serang Alis und der anderen Laskaren, die in ihren
schaukelnden Hängematten lagen und ihm mit den Augen zu der Zelle folgten.
    Der Gumashta hatte für niemanden einen Blick als für den Mann, zu dem er wollte; er konnte an nichts anderes als den Zweck seines Besuchs denken. Er ging vor den Gitterstäben in die Hocke und hielt Nil die Schlüssel hin. »Hier sind sie, nehmen Sie sie, nehmen Sie sie. Vielleicht helfen Sie Ihnen, Ihre Erlösung zu finden …«
    Doch als er Nil die Schlüssel übergab, fasste er seine Hand und ließ sie nicht

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