Das mohnrote Meer - Roman
dichten bleigrauen Masse zusammengeballt hatten. »Sturmwolken, wenn mich nicht alles täuscht«, murmelte er. »Wie schlimm wird es, was meinen Sie, Mr. Crowle?«
»Kein Grund zur Panik«, antwortete der Erste Steuermann. »Nur ein paar Schauer und Böen. Hat sich bis Tagesanbruch erledigt.«
Der Kapitän beugte sich zurück und sah an den Masten hoch, die nun bis auf das gereffte Großsegel und die Fock abgetucht waren. »Trotzdem, meine Herren«, sagte er. »Wir drehen bei und reiten den Sturm vor Treibanker ab. Wir wollen kein unnötiges Risiko eingehen.«
Keiner der beiden Steuerleute mochte sich als Erster mit solch übertriebener Vorsicht einverstanden erklären. »Scheint
mir nicht nötig, Sir«, meinte Mr. Crowle schließlich widerstrebend.
»Machen Sie’s trotzdem«, sagte der Kapitän. »Oder muss ich an Deck bleiben und das Ganze überwachen?«
»Keine Sorge, Sir«, erwiderte Mr. Crowle rasch. »Ich kümmere mich darum.«
»Gut. Dann überlasse ich das Ihnen. Ich bin heute nicht so ganz auf dem Posten, muss ich gestehen. Ich wäre dankbar, wenn man mir heute Nacht jede Störung ersparen würde.«
An diesem Abend durften die Girmitiyas nicht zum Essen an Deck. Des schlechten Wetters wegen wurden Eimer mit Trockenrationen durch die Luke herabgelassen: steinharte rotīs und geröstete Kichererbsen. Die meisten kümmerte das nicht, denn sie fühlten sich so elend, dass sie ohnehin nichts essen konnten. Die Ereignisse des Vormittags waren bereits verblasst; es wurde immer stürmischer, und die tobenden Elemente zogen alle Aufmerksamkeit auf sich. Jegliches offene Feuer war verboten, und so mussten sie im Dunkeln sitzen und konnten nur den Wellen lauschen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen, dem Sturm, der um die nackten Masten heulte. Der Lärm bestätigte alles, was sie je über das Schwarze Wasser gehört hatten. Es war, als suchten sich sämtliche Dämonen der Hölle in den Laderaum vorzukämpfen.
»Miss Lambert, Miss Lambert …«
Das Flüstern war über dem Getöse kaum zu vernehmen; wäre nicht ihr eigener Name genannt worden, hätte Paulette es gar nicht gehört. Sie stand auf, suchte an einem Balken Halt und wandte sich der Lüftungsöffnung zu. Ein hinter dem Schlitz schimmerndes Auge war alles, was sie sehen konnte, doch sie wusste sofort, wem es gehörte. »Mr. Halder?«
»Ja, Miss Lambert.«
Paulette trat näher heran. »Wünschen Sie etwas zu sagen?«
»Nur dass ich Ihnen für heute Nacht allen Erfolg wünsche: um Ihres Bruders und meiner selbst willen, ja, um unser aller willen.«
»Ich werde tun, was ich kann, Mr. Halder.«
»Daran zweifle ich nicht im Mindesten, Miss Lambert. Wenn jemand in dieser heiklen Mission Erfolg haben kann, dann Sie. Ihr Bruder hat uns ein wenig von Ihrer Geschichte erzählt, und ich muss gestehen, ich bin erstaunt. Sie sind eine Frau von außergewöhnlichen Gaben, Miss Lambert, ein Genie gewissermaßen. Sie haben Ihre Rolle so gut, so glaubwürdig gespielt, dass niemand Verdacht schöpfen konnte. Nie hätte ich geglaubt, dass meine Augen und Ohren so zu täuschen sind – noch dazu von einer Französin.«
»Aber ich bin nichts von alldem, Mr. Halder«, widersprach Paulette. »Es ist nichts Unechtes an der Person, die hier steht. Ist es etwa verboten, sich von verschiedenen Seiten zu zeigen?«
»Natürlich nicht. Ich hoffe sehr, Miss Lambert, dass wir uns irgendwann wiedersehen werden und unter glücklicheren Umständen.«
»Das hoffe ich auch, Mr. Halder. Und dann werden Sie mich doch gewiss Paulette nennen – oder Putli, wie Jodu. Sollten Sie mich jedoch Paggli nennen wollen, so ist auch dies eine Identität, die ich nicht verleugnen würde.«
»Und ich, Miss Paulette, würde Sie bitten, mich Nil zu nennen – allerdings werde ich, sollten wir uns einmal wiedersehen, dann wohl notgedrungen meinen Namen geändert haben. Bis dahin leben Sie wohl. Und bon courage .«
»Für Sie ebenfalls.«
Paulette hatte sich kaum wieder niedergelassen, da wurde sie von Jodu an die Lüftungsöffnung gerufen. »Es ist Zeit, Putli,
du musst dich umziehen und dich bereit machen. Der Mamdu-Tindal lässt euch in ein paar Minuten an Deck.«
Um Mitternacht, als seine Wache beendet war, zog Zachary sich trockene Sachen an und ließ sich in seine Koje fallen – bei einem solchen Sturm wusste man nie, wann man wieder an Deck gebraucht wurde. Von einem einzigen Sturmsegel abgesehen, hing kein Stück Tuch mehr an den Masten, doch es knatterte im Sturm wie eine ganze
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