Das mohnrote Meer - Roman
vertraut, hatte sie nicht bedacht, dass bei jeder Mahlzeit auch noch andere anwesend waren: die beturbanten Diener, die hinter jedem Stuhl standen, der Masalchi mit der Sauciere, der Chobdar, dessen Aufgabe es war, die Suppe aus der Terrine auf der Kredenz zu schöpfen, die drei oder vier Chakaras, die den älteren Bediensteten stets auf dem Fuß folgten. Und noch mehr Personal war an diesem Abend anwesend. Auch in der Küche war man neugierig auf die neue Missy-Mem, und viele der dort Beschäftigten spähten aus dem Vorraum herein, wo die Pankhavalas saßen und mithilfe an ihren Zehen befestigter Seile die Deckenfächer bewegten: unter ihnen der Curry-Khansama, der Khalifa, der die Kebabs briet, und die Bavarchis, die für Eintöpfe und Rindfleisch zuständig waren. Die Diener, die im Haus arbeiteten, hatten sogar einige andere hereingeschmuggelt, die nichts im Haus zu suchen hatten: Malis aus dem Garten, Pferdeknechte und Jalibdars aus den Ställen, Darvans aus dem Pförtnerhaus und sogar einige Bhishtis aus dem Trupp, der das Haus mit Wasser versorgte. Alle warteten mit angehaltenem Atem auf die Antwort ihres Herrn. Die Sauciere wackelte auf dem Tablett des Masalchis, der Chobdar ließ seine Kelle los, und die Seile der Pankhavalas erschlafften, als sie die Augen des Bara Sahibs und der Bara Bibi von Paulettes schlecht sitzendem Mieder – dessen Verschlüsse sich gelöst hatten – bis zum Saum ihres Kleides, der ihre Knöchel in all ihrer Nacktheit sehen ließ, hinabwandern sahen. Nur eine einzige Stimme war zu hören, die der kleinen Annabel, die
schadenfroh auflachte. »Mama! Sie hat ihren Jamma nicht gebunden! Und sieh nur, Mama, da ist ihr Knöchel! Siehst du ihn? Schau dir nur die Paggli an!«
Der Name blieb haften, und von da an hieß Paulette für Mrs. Burnham und Annabel Paggli.
Am nächsten Tag war ein Kontingent Schneider herbeigerufen worden, bestehend aus einem halben Dutzend Darzis und Rafugars, die Mrs. Burnhams Kleider den Maßen der Missy-Mem anpassen sollten. Bei aller Emsigkeit aber blieben ihre Bemühungen von begrenztem Erfolg. Mrs. Burnhams Kleider reichten, auch bis zum Äußersten ausgelassen, noch immer nicht so weit hinab, wie sie sollten, waren in der Taille und an den Armen aber wiederum viel weiter als nötig. Die Folge war, dass die fein geschneiderten Sachen an Paulette zum Rutschen und Flattern neigten. Memsahib-Kleidung dieser Art war Paulette nicht gewöhnt, und dass sie so schlecht saß, steigerte ihr Unbehagen noch beträchtlich. Oft scheuerte der lose Stoff auf ihrer Haut, und dann kniff, zog und kratzte sie, sodass Mrs. Burnham sie manchmal fragte, ob nicht vielleicht gewisse Tierchen in ihre Kleider geraten seien.
Seit diesem schrecklichen Abend hatte Paulette hart daran gearbeitet, sich genauso zu benehmen und genauso zu sprechen, wie es sich gehörte, jedoch nicht immer mit Erfolg. Erst neulich hatte sie, als von den Entbehrungen der Schiffsbesatzungen die Rede war, voll Stolz ein Wort gebraucht, das sie irgendwo gelesen hatte: Scharbock. Doch statt Applaus hatte sie nur betretene Mienen geerntet. Als Annabel außer Hörweite war, hatte Mrs. Burnham ihr kichernd erklärt, dass man dazu besser »Skorbut« sage. »Dieses andere Wort klingt doch allzu sehr nach ›Seid fruchtbar und mehret euch‹, meine Liebe«, hatte sie gesagt und ihr mit dem Fächer auf die Finger geklopft. »Das sollte eine Dame besser nicht in den Mund nehmen.«
Paulette war auch deshalb so früh aufgestanden, weil sie an der Materia Medica arbeiten wollte, dem unvollendeten Manuskript ihres Vaters über die Pflanzen Bengalens. Der Tagesanbruch war die einzige Zeit, die ganz allein ihr gehörte. Was sie während dieser Stunde tat, gab keinerlei Anlass zu Schuldgefühlen, selbst wenn es etwas war, was ihren Wohltätern missfallen hätte. Doch nur selten war Paulette imstande, sich tatsächlich dem Manuskript zu widmen, denn meist schweifte ihr Blick über den Fluss zum Botanischen Garten hinüber, und dann verlor sie sich in melancholischen Erinnerungen. War es freundlich oder grausam von den Burnhams, dass sie ihr ein Zimmer mit einem so schönen Blick auf den Fluss und das gegenüberliegende Ufer gegeben hatten? Sie hätte es nicht zu sagen gewusst. Jedenfalls brauchte sie, selbst wenn sie an ihrem Schreibtisch saß, nur ein wenig den Hals zu recken, um einen Blick auf den Bungalow zu werfen, den sie vor ungefähr vierzehn Monaten verlassen hatte. Es war, als würde er sie dort drüben spöttisch
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