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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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an alles erinnern, was sie mit dem Tod ihres Vaters verloren hatte. Überließ sie sich aber diesen Erinnerungen, überkam sie eine Welle des Schuldgefühls, denn es schien undankbar ihren Wohltätern gegenüber, ihrem früheren Leben nachzutrauern. Wann immer ihre Gedanken über den Fluss wanderten, rief sie sich gewissenhaft ins Gedächtnis zurück, welches Glück es für sie bedeutete, hier sein zu dürfen, und wie viel sie den Burnhams verdankte: ihre Kleider, ihr Zimmer, ein Taschengeld und vor allem die Unterweisung in Dingen, in denen sie betrüblich unwissend gewesen war, wie etwa Frömmigkeit, Bußfertigkeit und Heilige Schrift. Und es war nicht schwer, Dankbarkeit aufzubringen, denn um sich ihr Glück bewusst zu machen, brauchte sie nur daran zu denken, welches Los ihr andernfalls beschieden gewesen wäre. Statt in diesem geräumigen Zimmer zu sitzen, hätte sie sich als Insassin
des neu eröffneten Armenhauses für mittellose Eurasier und weiße Minderjährige in Alipur wiedergefunden. Sie hatte sich bereits mit diesem Schicksal abgefunden, als sie zu Mr. Kendalbushe vorgeladen wurde, einem streng blickenden Richter am Obersten Gericht. Er hatte sie aufgefordert, einem gnädigen Himmel zu danken, und ihr dann mitgeteilt, dass ihr Fall niemand anderem als Benjamin Brightwell Burnham zu Ohren gekommen sei, einem führenden Kaufmann und Philanthropen, der sich auch dadurch verdient mache, dass er immer wieder mittellose weiße Mädchen in sein Haus aufnehme. In einem Brief an das Gericht habe er sich erboten, der verwaisten Paulette Lambert ein neues Zuhause zu geben.
    Der Richter hatte Paulette das Schreiben gezeigt, dem die Worte vorangestellt waren: »Vor allen Dingen habt untereinander eine inbrünstige Liebe; denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge.« Zu ihrer Beschämung hatte Paulette nicht gewusst, woraus der Vers stammte, und Mr. Kendalbushe hatte sie aufgeklärt: »Aus dem Buch des Herrn, Erster Petrus, Kapitel vier, Vers acht.« Er hatte ihr dann einige einfache Bibelfragen gestellt, und ihre Antworten oder vielmehr deren Ausbleiben hatte den schockierten Richter zu einem scharfen Urteil veranlasst: »Miss Lambert, Ihre Gottlosigkeit ist eine Schande für die herrschende Rasse. So mancher Gentu und Momedaner in dieser Stadt ist bibelfester als Sie. Sie sind nur einen Schritt davon entfernt, wie ein Sunnit zu singen oder wie ein Schiit zu kreischen. Nach Auffassung des Gerichts sind Sie mit Mr. Burnhams Vormundschaft besser bedient als jemals mit der Ihres Vaters. Es ist nun an Ihnen, sich dieser glücklichen Fügung würdig zu erweisen.«
    In den elf Monaten, die Paulette nun in Bethel verbracht hatte, war ihre Bibelkenntnis rasch gewachsen, denn Mr. Burnham hatte es übernommen, sie persönlich zu unterrichten.
Wie ihren Vorgängerinnen hatte man auch ihr klargemacht, dass nichts anderes von ihr verlangt werde als regelmäßiger Kirchgang, gutes Benehmen und die Bereitschaft, sich religiöser Unterweisung zu öffnen. Vor ihrem Einzug hatte Paulette geglaubt, die Burnhams würden von ihr erwarten, dass sie sich in der Art einer armen Verwandten nützlich machte, und sie hatte betroffen feststellen müssen, dass ihre Möglichkeiten, sich erkenntlich zu zeigen, begrenzt waren. Ihr Angebot, Annabel Privatunterricht zu erteilen, war höflich abgelehnt worden – aus Gründen, die ihr bald einsichtig wurden: Nicht nur waren ihre Englischkenntnisse alles andere als perfekt, ihre Erziehung war auch das genaue Gegenteil dessen gewesen, was Mrs. Burnham für ein Mädchen als angemessen erachtete.
    Paulettes Ausbildung hatte größtenteils darin bestanden, ihrem Vater bei seiner Arbeit zu assistieren. Das ergab ein breiteres Unterrichtsspektrum, als man hätte annehmen können, denn Pierre Lambert benannte seine Pflanzen nicht nur auf Bengali und Sanskrit, sondern auch gemäß der von Linné entwickelten Systematik. Paulette hatte daher einiges an Latein von ihrem Vater gelernt und zugleich durch die gelehrten Munshis, die dem Kurator bei seinen Sammlungen zur Hand gingen, indische Sprachen aufgenommen. Französisch hatte sie aus eigenem Antrieb gelernt, indem sie wieder und wieder die Bücher ihres Vaters las, bis sie sie nahezu auswendig kannte. So hatten Bemühung und Beobachtung Paulette schon in sehr jungen Jahren zu einer versierten Botanikerin und eifrigen Leserin Voltaires, Rousseaus und insbesondere Bernardin de Saint-Pierres gemacht, des Lehrers und Mentors ihres Vaters. Von all dem hatte sie

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