Das mohnrote Meer - Roman
in Bethel jedoch nichts erwähnt, denn wie sie wusste, wünschten die Burnhams nicht, dass Annabel in Botanik, Philosophie oder Latein unterrichtet
wurde. Ihre Abneigung gegen die Papisterei kam fast ihrem Abscheu gegen Hindus und Muslime gleich – »Gentus und Muselmänner«, wie sie sie zu nennen beliebten.
Da Müßiggang nicht ihrem Naturell entsprach, hatte Paulette es sich zur Aufgabe gemacht, die Burnham’schen Gärten zu beaufsichtigen. Doch auch das hatte sich als nicht ganz einfach erwiesen, denn der Obergärtner hatte schnell deutlich gemacht, dass er nicht gewillt war, von einem Mädchen ihres Alters Anweisungen entgegenzunehmen. Trotz seines Einspruchs hatte sie neben dem Pavillon einen Indischen Rosenapfel gepflanzt, und nur unter größten Schwierigkeiten hatte sie den Mali dazu bewegen können, zwei Latanien in das Beet an der Hauptauffahrt zu setzen. Diese Palmen, besondere Lieblinge ihres Vaters, bildeten eine weitere schmale Brücke zu ihrer Vergangenheit.
Dass Paulette so häufig in Schwermut verfiel, lag nicht zuletzt daran, dass sie noch keine Möglichkeit gefunden hatte, ihren Wohltätern wirklich nützlich zu sein. Gerade rollte wieder ein Welle der Verzweiflung auf sie zu, da schreckte das Geräusch von Hufen und Rädern, die auf dem knirschenden Kies der Auffahrt zum Haupteingang eilig näherkamen, sie aus ihrer Niedergeschlagenheit auf. Sie blickte zum Himmel: Das Dunkel der Nacht war den ersten rosigen Streifen der Morgendämmerung gewichen. Dennoch war es für einen Besuch noch reichlich früh. Sie öffnete ihre Tür, durchquerte den Flur, entriegelte ein Fenster auf der anderen Seite des Hauses und sah gerade noch eine Kutsche am Säulenvorbau der Burnham’schen Villa vorfahren. Es war ein klappriges, aus den Resten einer alten Mietkutsche zusammengebautes Gefährt. Diese einfachen Kutschen waren in den bengalischen Vierteln der Stadt weitverbreitet, aber Paulette konnte sich nicht erinnern, je eine in Bethel gesehen zu haben, schon gar nicht am
Haupteingang des Hauses. Ein Mann in kurtā und in Dhoti stieg aus und beugte sich vor, um einen Mundvoll pān in ein Beet mit Kobralilien zu spucken. Paulette erhaschte einen Blick auf einen langen Zopf, der von einem riesigen Schädel herabhing, und sie erkannte den Besucher. Es war Babu Nobokrishna Panda, Mr. Burnhams Gumashta, der Bevollmächtigte für den Transport von Kontraktarbeitern. Paulette hatte ihn schon mehrmals gesehen, meist mit Stapeln von Papieren für Mr. Burnham zur Einsicht, aber so früh am Morgen war er noch nie erschienen, geschweige denn, dass er es gewagt hätte, sein Gefährt über die Hauptauffahrt bis zur Haustür zu lenken.
Um diese Zeit würde vermutlich niemand da sein, der den Babu einließ, denn es war die einzige Stunde des Tages, zu der die Türsteher draußen in Schlaf zu fallen pflegten, während sich die Khidmatgars drinnen noch nicht von ihren Charpais erhoben hatten. Stets darauf bedacht, sich nützlich zu machen, eilte Paulette deshalb die Treppe hinab und zog nach kurzem Kampf mit den Messingriegeln die Tür auf.
Draußen stand der Gumashta, ein wohlbeleibter Mann mittleren Alters mit schwermütig hängenden Wangen, dessen unförmige dunkle Ohren von seinem riesigen Kopf abstanden wie Pilze von einem bemoosten Felsen. Er hatte eine Stirnglatze, sonst aber noch volles, zu einem langen, priesterlichen Zopf geflochtenes Haar. Er war sichtlich überrascht, Paulette zu sehen, und obwohl er lächelnd den Kopf neigte, eine Geste des Grüßens ebenso wie der Ergebenheit, nahm sie ein Zögern an ihm wahr, das von einer gewissen Unsicherheit, was ihre Position betraf, herrühren musste. War sie als Mitglied der Familie Burnham zu behandeln, oder war sie angestellt und untergeordnet, ähnlich wie er? Um es ihm leichter zu machen, legte Paulette die Hände aneinander und wollte schon auf Bengali »Nomoshkar , Nobokrishno-Babu« sagen, da fiel ihr gerade
noch ein, dass der Gumashta es vorzog, auf Englisch und mit der anglisierten Form seines Namens angesprochen zu werden: Nob Kissin Pander.
»Kommen Sie doch herein, Babu Nob Kissin«, sagte sie und trat von der Tür zurück, um ihn einzulassen. Als sie die drei Streifen Sandelholzpaste auf seiner Stirn sah, ließ sie die Hand, die sie ihm reichen wollte, schnell wieder sinken: Der Gumashta war ein glühender Verehrer Krishnas, und als eheloser Suchender scheute er möglicherweise die Berührung einer Frau.
»Sie sind wohlauf, Miss Lambert?«, fragte er im
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