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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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zerrte.
    »Hallo! Hallo!«, hörte er jemanden auf Englisch rufen. Er schaute auf und sah einen kraushaarigen Mann, der ein Tau über dem Kopf schwang. Das Tau kam herabgeflogen, und Jodu bekam es gerade noch zu fassen, bevor das Heck des Schiffs vorbeirauschte und die Reste seines Dingis in die Tiefe riss. Im Strudel des Kielwassers wurde er herumgewirbelt, aber das Tau wand sich um seinen Körper, und als am anderen Ende gezogen wurde, tauchte er rasch aus dem Wasser auf, stemmte sich mit den Füßen gegen die Bordwand und wurde an Deck gehievt, wo er erschöpft zusammensank.
    Während er hustend und spuckend auf den nassen Planken lag, wurde ihm nach und nach bewusst, dass ihn jemand auf Englisch ansprach. Er schaute auf und sah in das freundliche Gesicht des Mannes, der ihm das Tau zugeworfen hatte. Der Mann kniete neben ihm und sagte etwas Unverständliches. Hinter ihm standen zwei Sahibs, der eine hochgewachsen und bärtig, der andere, der immer wieder erregt seinen Stock auf die Decksplanken stieß, dickbäuchig und mit buschigen Koteletten. Unter den forschenden Blicken der beiden Männer wurde Jodu sich plötzlich bewusst, dass er bis auf das dünne Baumwolltuch, das er um die Lenden trug, nackt war. Er kauerte sich zusammen wie ein schutzsuchendes Tier und versuchte, die Stimmen der Männer aus seinem Kopf zu verbannen. Doch bald darauf hörte er sie nach einem gewissen Serang Ali rufen, und dann packte ihn eine Hand am Genick und zwang ihn, zu einem strengen Gesicht mit einem dünnen Schnurrbart aufzuschauen.

    »Wie heißt du?«, fragte ihn der Serang.
    »Jodu«, sagte er, und weil das allzu kindlich klang, fügte er sogleich hinzu: »So nennt man mich, aber mein richtiger Name ist Azad – Azad Naskar.«
    »Zikri Malum sucht ein paar Anziehsachen für dich zusammen«, fuhr der Serang in gebrochenem Hindustani fort. »Du gehst unter Deck und wartest dort. Damit du uns beim Anlegen nicht im Weg bist.«
    Mit gesenktem Kopf folgte Jodu dem Serang vom Achterdeck hinunter und vorbei an der gaffenden Mannschaft zu dem Niedergang, der ins Zwischendeck hinabführte. »Das ist das Zwischendeck«, sagte Serang Ali. »Bleib hier, bis dich jemand holen kommt.«
    Kaum hatte Jodu den Fuß auf die Treppe gesetzt, stieg ihm ein ekelerregender Gestank in die Nase, der aus dem Zwischendeck kam. Es war ein zugleich widerwärtiger und beunruhigender Geruch, bekannt und undefinierbar, und er wurde umso stärker, je tiefer er hinabstieg. Am Fuß des Niedergangs angelangt, schaute er sich um und sah, dass er sich in einem niedrigen, leeren Raum befand, der nur von dem bisschen Licht erhellt wurde, das durch die Luke fiel. Obwohl es die ganze Schiffsbreite einnahm, wirkte das Zwischendeck bedrückend und einengend – teils, weil die Decke nur knapp über Kopfhöhe, teils, weil der Raum durch Balken in offene Verschläge wie für Rinder unterteilt war. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, trat er zögernd in eins dieser Abteile und stieß sich sofort die Zehe an einer schweren Eisenkette an. Er fiel auf die Knie und stellte fest, dass in dem Verschlag mehrere solcher Ketten lagen, allesamt am gegenüberliegenden Balken befestigt. Am losen Ende hatte jede dieser Ketten armreifartige Schellen mit Ösen, in die ein Vorhängeschloss eingehängt werden konnte. Die Ketten waren
so schwer, dass Jodu sich fragte, welche Art Ladung damit wohl verzurrt werden sollte. Vielleicht waren sie für Vieh gedacht – doch es roch in dem Raum nicht nach Kühen, Pferden oder Ziegen. Es war ein eher menschlicher Gestank nach Schweiß, Urin, Exkrementen und Erbrochenem, der so tief in das Holz eingedrungen war, dass er sich nicht mehr beseitigen ließ. Jodu hob eine der Ketten auf und kam bei näherer Betrachtung der Schellen zu dem Schluss, dass sie für die Hand- oder Fußgelenke von Menschen gedacht waren. Er tastete mit beiden Händen den Boden ab und stellte fest, dass das Holz leichte Vertiefungen aufwies, die ihrer Form und Größe nach nur von Menschen stammen konnten und über große Zeiträume hinweg entstanden waren. Die Mulden lagen so dicht nebeneinander, dass die Menschen hier gelegen haben mussten wie Waren auf einer Ladentheke. Was für Schiffe wurden wohl auf diese Weise für den Transport von Menschen ausgestattet? Und warum hatte der Serang ihn, Jodu, zum Warten hier herunter geschickt, wo ihn niemand sah? Plötzlich fielen ihm Geschichten ein, die man sich auf dem Fluss erzählte, von Teufelsschiffen, die aus

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