Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
hinaus, und Paulette sah, dass in dem Viereck ein Schiff aufgetaucht war, an dessen Hauptmast deutlich die karierte Flagge der Burnhams zu sehen war.
    »Ibis ist da!«, rief Babu Nob Kissin. »Donnerwetter, endlich! Herr wartet, wartet, ganze Zeit liegt mir in Ohren – ›Warum mein Schiff nicht kommt?‹ Jetzt wird glücklich sein.«
    Paulette riss eine Tür auf und rannte durch den Garten ans Wasser. Auf dem Achterdeck des Schoners stand Mr. Burnham und schwenkte seinen Hut triumphierend in Richtung Bethel. Die Besatzung des Kaiks winkte vom Bootshaus zurück.
    Während die Männer an Bord und an Land winkten, schweifte
Paulettes Blick über das Wasser, und sie entdeckte ein Dingi, dessen Vertäuung sich gelöst zu haben schien, sodass es führerlos auf den Wellen trieb. Die Strömung hatte es erfasst und in die Mitte des Flusses gezogen, auf Kollisionskurs mit dem Schoner.
    Paulette schaute genauer hin, und ihr stockte der Atem. Selbst auf die Entfernung sah das Boot genauso aus wie Jodus Dingi. Zwar waren Hunderte ähnlicher Dingis auf dem Hooghly unterwegs, dieses eine aber kannte sie ganz genau: Es war das Boot, in dem sie zur Welt gekommen und in dem ihre Mutter gestorben war, das Boot, in dem sie als Kind gespielt hatte und in dem sie mit ihrem Vater in die Mangrovenwälder gefahren war, um Pflanzenproben zu sammeln. Sie erkannte das Strohdach wieder, die Krümmung des Bugs, das stumpfe Heck. Nein, es gab keinen Zweifel, das war Jodus Boot, und es war nur noch wenige Meter von der Ibis entfernt, in akuter Gefahr, von dem messerscharfen Vorsteven gerammt zu werden.
    In dem verzweifelten Versuch, die Kollision zu verhindern, ließ Paulette die Arme kreisen und schrie, so laut sie konnte: »Achtung! Dekho ! Dekho ! Attention! «

    Nachdem er wochenlang voller Sorge am Bett seiner Mutter gewacht hatte, schlief Jodu nun tief und fest und merkte nicht, dass sein Boot sich losgemacht hatte und auf die Flussmitte zutrieb, in die Fahrrinne der Seeschiffe, die mit der steigenden Flut nach Kalkutta auslaufen wollten. Die Ibis war seinem Boot schon bedrohlich nahe gekommen, als ihn das Knattern ihres Vormarssegels weckte. Was er sah, war so unfassbar, dass er im ersten Moment wie gelähmt war. Er blieb reglos im Boot liegen, den Blick auf den vorstehenden Schnabel der geschnitzten Galionsfigur des Schiffs geheftet, der direkt auf ihn
zukam, als wollte er ihn wie ein Beutetier aus dem Wasser schnappen.
    Wie er da, auf dem Rücken ausgestreckt, auf den Bambusstangen seines Dingis lag, hätte er eine Opfergabe an den Fluss sein können, von einem frommen Pilger auf einem Floß aus Blättern ausgesetzt. Er erkannte sofort, dass es sich um ein Schiff handelte, das, abgesehen von zwei Rahsegeln am Vormast, nur Schratsegel trug. Nur das Vormarssegel stand voll, und dieses Stück Leinwand hatte ihn durch sein Schlagen in den Böen des Morgenwindes geweckt. Fünf oder sechs Laskaren saßen wie Vögel aufgereiht auf der Rah des Vormasts, während unten auf dem Deck der Serang und die Tindals winkten, als wollten sie Jodu warnen. Er erkannte an ihren offenen Mündern, dass sie ihm etwas zuriefen, aber er konnte es nicht hören, weil ihre Stimmen im Rauschen des Wassers untergingen, das sich am Bug des Schoners brach.
    Der Schoner war jetzt so nahe, dass Jodu den grün schimmernden Kupferbeschlag des Vorstevens sehen konnte; und er konnte sogar die Seepocken erkennen, die sich auf dem nassen, schleimbedeckten Holz festgesetzt hatten. Wenn der Vorsteven sein Boot in der Mitte rammte, dann würde es wie ein Bündel Zweige unter einem Axthieb zersplittern, und er selbst würde von der Bugwelle in die Tiefe gerissen werden. Das lange Paddel, das als Steuerruder des Dingis diente, war zwar nur einen Schritt entfernt, aber als er sich mit der Schulter gegen die Pinne warf, war es schon zu spät, um den Kurs des Boots noch nennenswert zu ändern; er konnte es nur noch so weit drehen, dass es nicht direkt mittschiffs getroffen wurde, sondern seitlich vom Rumpf der Ibis abprallte. Der Stoß ließ es fast kentern, genau in dem Moment, als ihn die Bugwelle überspülte wie ein Brecher am Strand. Während das Boot unter ihm zersplitterte, gelang es Jodu gerade noch, sich an
einem der Rundhölzer festzuhalten, während er unter Wasser gerissen wurde und dann wieder auftauchte. Er sah, dass er zusammen mit den Trümmern des Dingis schon fast bis zum Heck abgetrieben war, und spürte jetzt den mächtigen Sog des Kielwassers, der an seinem Balken

Weitere Kostenlose Bücher