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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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jetzt?«
    Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter, und sie spürte, wie seine Rückenmuskeln zitterten. Besorgt drückte sie seinen fast nackten Körper noch enger an sich und versuchte, ihn mit ihren Armen zu wärmen. Sein Lendentuch war noch nass, und sie spürte, dass die Feuchtigkeit in die Falten ihres Kleides eindrang. »Jodu!«, sagte sie. »Was ist passiert? Geht es Tantima gut? Sag schon!«
    »Sie ist gestorben«, sagte Jodu mit zusammengebissenen Zähnen. »Vor zwei Tagen.«
    »Gestorben!« Nun senkte auch Paulette den Kopf, sodass sie
beide die Nasen in der Halsbeuge des anderen vergruben. »Ich kann’s nicht glauben«, flüsterte sie und wischte ihre Tränen an seiner Haut ab.
    »Sie hat bis zum Schluss an dich gedacht«, sagte Jodu unter Tränen. »Du warst immer …«
    Er hielt inne, weil ganz in der Nähe jemand hustete, gefolgt von einem Räuspern.
    Paulette spürte, wie Jodu sich versteifte, noch ehe sie es ebenfalls hörte. Sie löste sich aus der Umarmung, fuhr herum und sah sich von Angesicht zu Angesicht einem scharfäugigen, kraushaarigen jungen Mann in einem ausgebleichten Hemd gegenüber.
    Auch Zachary war erschrocken, fing sich aber als Erster. »Hallo, Miss«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Zachary Reid, der Zweite Steuermann.«
    »Ich bin Paulette Lambert«, brachte sie mühsam hervor, während sie ihm die Hand schüttelte. Und in ihrer Verwirrung fügte sie rasch hinzu: »Ich habe den Vorfall vom Rivage aus beobachtet und wollte nachsehen, was dem unglücklichen Opfer passiert ist. Ich habe mir große Sorgen um ihn gemacht …«
    »Das sehe ich«, sagte Zachary trocken.
    Als sie Zachary nun in die Augen schaute, gingen Paulette die abenteuerlichsten Vermutungen darüber durch den Kopf, was er jetzt von ihr denken musste und was Mr. Burnham tun würde, wenn er erfuhr, dass seine angehende Memsahib eng umschlungen mit einem eingeborenen Bootsführer überrascht worden war. Alle möglichen Notlügen fielen ihr ein: dass sie wegen des Gestanks im Zwischendeck ohnmächtig geworden sei, dass sie im Dunkeln gestolpert sei … Doch nichts von alledem wäre so überzeugend gewesen wie die Version, dass Jodu über sie hergefallen sei – aber das konnte sie ihm nicht antun.

    Doch seltsamerweise schien Zachary gar kein Aufhebens von der Sache machen zu wollen. Statt sich nach Art eines Sahibs lautstark zu entrüsten, tat er in aller Seelenruhe, wozu er ins Zwischendeck gekommen war: Er händigte Jodu ein Hemd und eine Leinenhose aus.
    Nachdem Jodu sich zurückgezogen hatte, brach Zachary das unbehagliche Schweigen: »Ich nehme an, Sie kennen diesen Unglücksraben?«
    So beiläufig angesprochen, brachte Paulette es nicht über sich, ihm irgendeine erfundene Geschichte aufzutischen. »Mr. Reid«, sagte sie, »Sie waren sicher schockiert, mich in so intimer Umarmung mit einem Eingeborenen anzutreffen. Aber ich versichere Ihnen, es war nichts Ehrenrühriges daran. Ich kann Ihnen alles erklären.«
    »Nicht nötig«, sagte Zachary.
    »Doch, ich muss es erklären. Und sei es nur aus dem einen Grund, um Ihnen von Herzen dafür zu danken, dass Sie ihn gerettet haben. Wissen Sie, Jodu ist der Sohn der Frau, die mich großgezogen hat. Wir sind zusammen aufgewachsen; er ist für mich wie ein Bruder. Und ich habe ihn wie eine Schwester umarmt, denn er hat einen schweren Verlust erlitten. Er ist der einzige Angehörige, den ich auf dieser Welt noch habe. Das alles muss Ihnen ziemlich bizarr vorkommen …«
    »Überhaupt nicht.« Zachary schüttelte den Kopf. »Miss Lambert, ich weiß sehr gut, wie eine solche Verbindung entstehen kann.«
    Sie nahm ein leises Beben in seiner Stimme wahr, so als hätte ihre Geschichte eine Saite in ihm zum Klingen gebracht. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Aber bitte sagen Sie niemandem etwas davon«, bat sie schuldbewusst. »Es gibt Leute, wissen Sie, die Vertraulichkeiten zwischen einer Memsahib und einem Bootsmann nicht … goutieren.«

    »Bei mir sind Geheimnisse gut aufgehoben, Miss Lambert«, beruhigte er sie. »Ich werde Sie nicht bloßstellen. Verlassen Sie sich drauf.«
    Paulette hörte Schritte und drehte sich um. Vor ihr stand Jodu in einer blauen Matrosen- baniyāin und alten Leinenhosen. Es war das erste Mal, dass sie ihn in etwas anderem als in lungī s und gamchhās , Westen und chadārs sah – und nun sah sie auch, wie sehr er sich verändert hatte, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte: Er war schlanker, größer und kräftiger

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