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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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drei Mal, aber ist nicht wie andere, kein Lüstling, kein Spieler, kein Säufer. Leider ist zu gutherzig, macht immer milde Taten, gibt Geld. Natürlich viele Schurken nutzen aus …«

    Diese Beschreibung war weder unrichtig noch ungenau, das wusste Paulette, aber so mochte sie ihren Vater in der Erinnerung nicht sehen, denn die meisten, die von seiner Freundlichkeit profitiert hatten, waren Menschen in großer Not gewesen: Obdachlose und Gassenkinder, verkrüppelte Lastträger, Bootsführer, die ihr Boot verloren hatten. Und selbst jetzt, da sie der Obhut von Menschen anvertraut war, die bei aller Freundlichkeit doch Fremde für sie waren, mochte sie ihrem Vater die größte seiner Tugenden, das, was sie am meisten an ihm geliebt hatte, nicht zum Vorwurf machen. Doch dass ihr Schicksal ein anderes gewesen wäre, wenn er – wie die meisten Europäer in der Stadt – auf seine Bereicherung bedacht gewesen wäre, ließ sich nicht leugnen.
    »Lambert-Sahib immer diskutiert mit mir in Bangla«, fuhr der Gumashta fort. »Aber ich antworte nur in Englisch.«
    Doch nun, wie um seine Worte Lügen zu strafen, wechselte er zu Paulettes Überraschung ins Bengali. Damit schien eine Sorgenlast von seinem riesigen, schlaffen Gesicht abzufallen. »Hören Sie: Wenn Ihr Vater Geld brauchte und zu mir kam, wusste ich sofort, dass er es wieder irgendeinem Bettler oder Krüppel geben würde. › Are , Lambert- shaheb ‹, sagte ich dann zu ihm, ›ich habe schon viele Christen gesehen, die sich den Weg in den Himmel erkaufen wollten, aber einer, der so hart daran arbeitet wie Sie, ist mir noch nicht begegnet.‹ Er hat dann gelacht wie ein Kind – er hat gern gelacht, Ihr Vater –, aber diesmal nicht. Kein Lachen diesmal und kaum ein Wort, bis er die Hand ausgestreckt und gefragt hat: ›Wie viel geben Sie mir für das hier, Nob Kissin Babu?‹ Ich wusste sofort, dass es ein Stück von großem Wert für ihn war, das sah man daran, wie er es hielt – aber das Übel unserer Zeit ist ja, dass Dinge, die uns teuer sind, nicht unbedingt auch anderen teuer sind. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und sagte: ›Lambert- shaheb , sagen Sie
mir, wofür brauchen Sie das Geld? Wie viel brauchen Sie?‹ ›Nicht viel‹, war die Antwort, ›nur so viel, dass es für eine Passage nach Frankreich genügt.‹ Ich war überrascht. ›Für Sie selbst, Lambert- shaheb? ‹ Er schüttelte den Kopf. ›Nein‹, sagte er, ›für meine Tochter Putli. Für den Fall, dass mir etwas zustößt. Ich will, dass ihre Rückreise gesichert ist. Ohne mich wäre sie in dieser Stadt nicht gut aufgehoben.‹«
    Der Gumashta brach ab. Er schloss die Hand um das Medaillon und schaute auf seine Uhr. »Ihr Vater, Miss Lambert – er konnte unsere Sprache so gut. Ich habe immer gestaunt …«
    Als er nun mit seiner klangvollen Stimme weitererzählte, hörte Paulette seine Worte, als spräche ihr Vater sie auf Französisch: »›Sie ist ein Naturkind, meine Tochter Paulette. Ich habe sie, wie Sie wissen, selbst großgezogen in der unschuldigen, ruhigen Umgebung des Botanischen Gartens. Als Lehrer hat sie nur mich gehabt, und sie hat nie an einem anderen Altar gebetet als dem der Natur. Die Bäume waren ihre Bibel, die Erde ihre Offenbarung. Sie kennt nichts als Liebe, Gleichheit und Freiheit. Ich habe sie dazu erzogen, sich an jenem Zustand der Freiheit zu erfreuen, der die Natur selbst ist. Wenn sie hier in den Kolonien bleibt, zumal in einer Stadt wie dieser, in der Europa seine Schande und seine Gier verbirgt, wird es ihr schlimm ergehen. Die Weißen werden sie in Stücke reißen, wie Geier und Füchse, die sich um einen Kadaver streiten. Sie wird schuldlos in die Fänge von Geldwechslern geraten, die sich als Männer Gottes ausgeben …‹«
    »Halt!« Paulette hielt sich die Ohren zu, als wollte sie die Stimme ihres Vaters nicht mehr hören. Wie unrecht er gehabt hatte! Wie falsch er sie immer gesehen hatte! Er hatte sie zu etwas machen wollen, was er selbst gern gewesen wäre, statt sie als das ganz gewöhnliche Geschöpf zu nehmen, das sie war. Doch selbst in ihrer Auflehnung gegen sein Bild von ihr verschleierten
sich ihre Augen bei dem Gedanken an ihre Kinderjahre, als sie und ihr Vater mit Jodu und Tantima in dem Bungalow gelebt hatten wie auf einer Insel der Unschuld in einem Meer der Verderbtheit.
    Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie einen Traum vertreiben. »Und was haben Sie ihm gesagt, Nob Kissin Babu, was das Medaillon wert sei?«
    Der Gumashta

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