Das mohnrote Meer - Roman
dem Nichts auftauchten, dicht vor der Küste ankerten und die Einwohner ganzer Dörfer mitnahmen. Die Opfer wurden dann bei lebendigem Leibe aufgefressen, hieß es. Wie ein Heer von Gespenstern bemächtigten sich namenlose Ängste seiner Seele; er hockte sich in eine Ecke, saß zitternd da und verfiel nach und nach in einen tranceähnlichen Schockzustand.
Der Bann wurde gebrochen, als jemand den Niedergang herunterkam. Jodu hob den Kopf und dachte, es sei Serang Ali oder vielleicht der krausköpfige Mann, der ihm das Tau zugeworfen hatte. Doch stattdessen sah er die Gestalt einer Frau, in ein langes, dunkles Gewand gekleidet, auf dem Kopf eine Haube, die das Gesicht verbarg. Um nicht in seinem halb
nackten Zustand von einer fremden Memsahib entdeckt zu werden, schlüpfte er rasch in einen entfernten Verschlag. Er presste sich an die Bordwand, um sich unsichtbar zu machen, aber dabei stieß er mit dem Fuß an eine Kette, und das Klirren hallte durch den ganzen Raum. Er erstarrte, als die Füße der Memsahib auf ihn zugetappt kamen. Plötzlich hörte er seinen Namen: »Jodu?« Das geflüsterte Wort war noch nicht verklungen, als die Frau mit der Haube um die Ecke bog und näher kam: »Jodu?« Sie blieb stehen, um ihre Haube abzunehmen, und er sah ein vertrautes Gesicht vor sich.
»Ich bin’s doch bloß, Putli.« Paulette lächelte ihm ins fassungslos staunende Gesicht: »Hast du die Sprache verloren?«
In seiner Kajüte auf dem Achterdeck leerte Zachary einen Seesack auf seine Koje aus, um ein paar Sachen für Jodu auszusuchen, als zusammen mit diversen baniyāins , Hemden und Hosen etwas herausfiel, was er längst verloren geglaubt hatte: seine alte Blechflöte. Grinsend griff er danach: Es war schier unglaublich, es kam ihm vor wie ein Zeichen, ein gutes Omen. Er vergaß völlig, weshalb er seine Kajüte aufgesucht hatte, setzte die Flöte an die Lippen und begann »Heave Away Cheerily« zu spielen, eins seiner Lieblingsshantys.
Diese Melodie im Verein mit dem Klang des Instruments ließ Babu Nob Kissin, der eben die Hand gehoben hatte, um an der Kajütentür zu klopfen, innehalten. Er erstarrte, lauschte angestrengt, und im nächsten Moment überlief ein Kribbeln seinen erhobenen Arm.
Seit mehr als einem Jahr, seit dem viel zu frühen Tod seiner spirituellen Meisterin, seiner Guru-ma, war Babu Nob Kissins Herz von dunklen Vorahnungen erfüllt: Ma Taramony, wie sie unter ihren Anhängern hieß, hatte ihm versprochen, dass seine Erweckung unmittelbar bevorstehe, und ihn ermahnt, sorgfältig
auf alle Anzeichen dafür zu achten, die gewiss an den unglaublichsten Orten und auf die unwahrscheinlichste Art und Weise auftreten würden. Er hatte ihr versprochen, sein Bestes zu tun, seinen Geist offen und seine Sinne wachzuhalten, damit ihm die Anzeichen nicht entgingen, wenn sie sich einstellten. Doch so sehr er sich auch mühte, konnte er doch seinen Ohren nicht trauen. War es wirklich eine Flöte, das ureigene Instrument Krishnas, das in dem Moment zu tönen anhob, als er, Nob Kissin Pander, im Begriff stand, an die Tür dieser Kajüte zu klopfen? Es schien unmöglich, und doch ließ es sich nicht leugnen – so wenig, wie sich leugnen ließ, dass die Melodie, obzwar an sich fremd, im Gurjari gesetzt war, einem der beliebtesten Ragas für die Darbietung der Gesänge des Dunklen Herrn. So lange und so inbrünstig hatte Nob Kissin auf dieses Zeichen gewartet, dass er jetzt, als die Melodie verklang und eine Hand auf der anderen Seite den Türknauf drehte, auf die Knie sank, sich die Augen zuhielt und vor Furcht zitternd darauf wartete, was sich ihm offenbaren sollte.
Fast wäre deshalb Zachary über den knienden Gumashta gestolpert, als er mit einer baniyāin und einer Hose unterm Arm seine Kajüte verlassen wollte. »He!«, sagte er und schaute verdutzt auf den untersetzten, mit einer Dhoti bekleideten Mann hinab, der mit vors Gesicht geschlagenen Händen vor der Tür auf dem Boden kauerte. »Was treiben Sie denn da?«
Wie die Blätter einer berührungsempfindlichen Pflanze lösten sich die Finger des Gumashtas, und er sah die vor ihm erschienene Gestalt in voller Größe. Im ersten Moment war er tief enttäuscht: Er hatte sich die Warnung seiner Meisterin gut eingeprägt, dass nämlich seine Erweckungsbotschaft von den unwahrscheinlichsten Boten überbracht werden könne. Dennoch konnte er nicht glauben, dass Krishna, dessen Name ja
»schwarz« bedeutete und dessen dunkles Aussehen in Tausenden von Liedern,
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