Das mohnrote Meer - Roman
Zenana; unfassbar, dass ein Außenseiter es wagen sollte, hier einzudringen.
»Sind die verrückt geworden? Wie können die auch nur an so etwas denken?«
»Huzūr «, beschwor ihn Parimal, »sie haben gesagt, es dulde keinen Aufschub. Sie warten.«
»Nun gut.« Nil war eher neugierig als besorgt, doch bevor er das Dach verließ, blieb er stehen, um Raj Rattan übers Haar zu streichen.
»Wohin gehst du, bābā? «, beschwerte sich der Junge. »Du hast versprochen, dass wir Drachen steigen lassen, bis die Sonne untergegangen ist.«
»Das tun wir auch«, sagte Nil. »Ich bin in zehn Minuten zurück.« Der Junge nickte und wandte sich wieder seinem Drachen zu, während Nil die Treppe hinabstieg.
Am Fuß der Treppe lag der Innenhof der Zenana, und als Nil ihn durchschritt, fiel ihm auf, dass es im Haus totenstill geworden war – unerklärlicherweise, denn um diese Tageszeit waren all seine ältlichen Tanten, verwitweten Cousinen und sonstigen weiblichen Verwandten und Abhängigen stets am geschäftigsten. Mindestens hundert von ihnen wohnten hier, und um diese Stunde liefen sie gewöhnlich von einem Raum in den anderen, mit frisch angezündeten Lampen und Räucherwerk, wässerten die tulsī -Pflanzen, läuteten die Tempelglöckchen, bliesen auf Schneckenhörnern und trafen Vorbereitungen für das Abendessen. Doch heute lagen die Räume um den Hof im Dunkeln. Keine einzige Lampe war zu sehen, und die weiß gekleideten Gestalten seiner verwitweten Verwandten drängten sich auf den Veranden.
Aus dem stillen Innenhof trat Nil in den zur Straße gehenden Teil des Anwesens, wo der Büroflügel und die Unterkünfte für die rund hundert Wachen der Zamindari lagen. Auch hier traute Nil seinen Augen nicht. Als er ins Freie gelangte, sah er, dass die Piyadas, Paiks und Lathiyals von einer Abteilung bewaffneter Polizei in eine Ecke gedrängt worden waren. Man hatte ihnen ihre Schlagstöcke, Knüttel und Säbel
abgenommen, und sie waren sichtlich verwirrt und empört, doch als sie den Zamindar erblickten, riefen sie immer wieder: »Joi mā Kali! Joi Raskhali! Heil Mutter Kali. Heil Raskhali!« Nil hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, aber ihr Geschrei wurde immer lauter und steigerte sich zu einem Brüllen, das durch die benachbarten Straßen und Gassen hallte. Nil hob den Kopf und sah, dass die Terrassen und Balkone der Gebäude, die den Hof säumten, voller Menschen waren, die alle neugierig herabschauten. Er beschleunigte seine Schritte und stieg rasch die Treppe zu seinem Büro im ersten Stock hinauf.
Der Daftar des Zamindars war ein großer, unordentlicher, mit Aktenschränken und anderen Möbeln vollgestellter Raum. Als Nil eintrat, erhob sich ein englischer Offizier in roter Uniform, den hohen Hut unter dem Arm. Nil erkannte ihn sofort: Er hieß Hall und war ein ehemaliger Major der Infanterie, der jetzt die städtische Polizei leitete; er hatte schon mehrmals die Raskhali-Rajbari aufgesucht – um Fragen der öffentlichen Sicherheit zu erörtern, manchmal aber auch als Gast.
Nil begrüßte ihn per Handschlag und rang sich ein Lächeln ab. »Ah, Major Hall! Was kann ich für Sie tun? Bitte erlauben Sie mir …«
Die düstere Miene des Majors hellte sich nicht auf, als er mit steifer Amtsstimme sagte: »Raja Nil Rattan, eine Pflicht, die ich zutiefst bedauere, führt mich heute in Ihr Haus.«
»Oh?«, sagte Nil. Zerstreut nahm er wahr, dass der Polizeichef seinen Säbel trug; er hatte Major Hall schon so oft in der Rajbari begrüßt, konnte sich aber nicht erinnern, ihn jemals bewaffnet gesehen zu haben. »Und was ist der Zweck Ihres Besuches, Major Hall?«
»Es ist meine schmerzliche Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass ich einen Haftbefehl für Sie überbringe.«
»Einen Haftbefehl?« Das Wort war zu befremdlich, um sinnvoll zu erscheinen. »Sie sind hier, um mich zu verhaften?«
»Ja.«
»Darf ich erfahren, weshalb?«
»Wegen eines Fälschungsdelikts, Sir.«
Nil starrte ihn fassungslos an. »Fälschung? Bei Gott, Sir, ich muss gestehen, ich finde diesen Scherz nicht eben amüsant. Was soll ich denn gefälscht haben?«
Der Major griff in seine Tasche und legte ein Blatt Papier auf einen mit Intarsien versehenen Marmortisch. Nil wusste, worum es sich handelte, ohne auch nur einen näheren Blick darauf zu werfen: Es war einer der vielen Dutzend Schuldscheine, die er im Lauf des letzten Jahres unterzeichnet hatte. Er lächelte. »Das ist keine Fälschung, Major. Ich selbst kann bezeugen, dass das
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