Das mohnrote Meer - Roman
die Handschrift des Dunklen Herrn verriet. Dies war die Bestätigung, die er brauchte, dessen war er sicher – so wie er auch überzeugt war, dass der Bote selbst nichts von seiner Mission wusste: Weiß denn ein Umschlag, was in dem Brief steht, den er birgt? Weiß ein Blatt Papier, was auf ihm geschrieben steht? Nein, das Zeichen lag in der Verwandlung, die sich auf der Überfahrt vollzogen hatte. Die bloße Tatsache der Veränderlichkeit der Welt hatte die Gegenwart göttlicher Illusion, die Gegenwart von Sri Krishnas līlā bewiesen.
Babu Nob Kissin nahm die Mannschaftsliste von den anderen Papieren fort, trug sie zu einem Wandschrank und legte sie hinein. Morgen würde er sie eng zusammenrollen und sie zu einem Kupferschmied bringen, um sie in ein Amulett einschließen zu lassen, sodass er sie wie eine Halskette tragen konnte. Falls Mr. Burnham nach der Liste fragte, würde er behaupten, sie sei verlorengegangen. So etwas kam auf langen Überfahrten öfter vor.
Beim Schließen der Schranktür fiel Babu Nob Kissin ein safranfarbener alkhalla ins Auge, eines der langen, losen Gewänder, die Taramony gern getragen hatte. Spontan zog er ihn an, über seinen Dhoti und seinen kurtā , und trat vor einen Spiegel. Er war verblüfft, wie gut er ihm stand. Er hob die
Hände an den Nacken, löste das Band und schüttelte sein Haar, sodass es über seine Schultern herabfiel. Von nun an, beschloss er, würde er es nie mehr zusammenbinden oder schneiden; er würde es offen tragen und wachsen lassen, sodass es, wie Taramonys lange schwarze Locken, bis zu den Hüften reichen würde. Während er sein Spiegelbild betrachtete, gewahrte er ein Glühen, das sich langsam in seinem Körper ausbreitete, als werde er von einer anderen Präsenz durchdrungen. Plötzlich füllten sich seine Ohren mit Taramonys Stimme: Abermals sagte sie die Worte, die sie in eben diesem Raum gesprochen hatte. Er solle sich bereit machen, den Zeichen zu folgen, wohin immer sie ihn führten, und sei es übers Meer. Mit einem Schlag war alles klar, und die Ereignisse der letzten Zeit bekamen einen Sinn: Die Ibis sollte ihn an den Ort bringen, an dem sein Tempel errichtet werden würde.
Nil und Raj Rattan ließen auf dem Dach des Raskhali-Palasts in Kalkutta Drachen steigen, als der Polizeichef mit einer Abteilung Silahdars und Darogas erschien. Es war am frühen Abend eines heißen Apriltages, und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne schimmerten auf dem Hooghly. Die umliegenden Ghats waren mit Badenden bevölkert, die sich den Staub des Tages abwuschen, und auf den bemoosten Dächern und Terrassen rund um die Raskhali-Rajbari genossen die Menschen die kühle Abendluft. Überall in der Nachbarschaft ertönten, da die ersten Lampen entzündet wurden, Schneckenhörner, und von fernher erklang der Ruf eines Muezzins.
Als plötzlich Parimal erschien, war Nil ganz auf den Drachen konzentriert, der in der frischen Brise des Monats phalgun hoch emporgestiegen war. Er hörte nur mit halbem Ohr
hin. »Huzūr «, wiederholte Parimal. »Sie müssen hinuntergehen. Er fragt nach Ihnen.«
»Wer?«, wollte Nil wissen.
»Der englische Offizier vom Gefängnis – er ist mit einem Polizeitrupp da.«
Nil ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: Es kam oft vor, dass Polizeibeamte ihn wegen irgendwelcher Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Zamindari sprechen wollten. Immer noch mit seinem Drachen beschäftigt, sagte er: »Was gibt’s denn? Hat sich in der Nähe ein Einbruch oder ein Raubüberfall ereignet? Wenn sie Hilfe brauchen, sag ihnen, sie sollen sich an den Gumashta-Babu wenden.«
»Nein, huzūr . Die wollen Sie.«
»Dann müssen sie morgen früh wiederkommen«, sagte Nil in scharfem Ton. »Um diese Zeit erscheint man nicht unangemeldet im Haus eines Gentleman.«
»Sie lassen sich nicht abwimmeln, huzūr . Sie bestehen darauf …«
Mit der Spule der Drachenschnur in der Hand warf Nil Parimal einen raschen Blick zu und sah zu seiner Überraschung, dass er sich vor ihn hingekniet hatte und seine Augen mit Tränen gefüllt waren. »Parimal?«, sagte er fassungslos. »Warum machst du so einen tamāshā? Was ist denn bloß los?«
»Huzūr «, wiederholte Parimal mit erstickter Stimme. »Die wollen Sie. Sie sind im Daftar. Sie waren schon auf dem Weg hier herauf. Ich musste sie anflehen, unten zu warten.«
»Sie wollten hier heraufkommen?« Nil verschlug es die Sprache. Dieser Teil des Dachs gehörte zum abgeschiedensten Teil des Hauses, er lag über der
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