Das mohnrote Meer - Roman
höchster Verwirrung registrierte er mit großer Erleichterung, dass sie die Zenana nicht verlassen hatte. So blieb ihm wenigstens die Demütigung erspart, dass ihr der Schleier ihrer Abgeschiedenheit weggerissen wurde.
»Huzūr. « Parimal stand neben ihm, mit einer Tasche in der Hand. »Ich habe ein paar Sachen eingepackt – alles, was Sie brauchen werden.«
Nil drückte seinem Diener dankbar die Hände. Sein Leben lang hatte Parimal genau gewusst, was er benötigte, oft bevor es ihm selbst bewusst geworden war, aber noch nie hatte er sich ihm so tief verpflichtet gefühlt wie jetzt. Er streckte die Hand aus, um die Tasche zu nehmen, aber Parimal gab sie ihm nicht.
»Wie könnten Sie denn Ihr eigenes Gepäck tragen , huzūr? Vor aller Augen?«
Die Absurdität dieser Äußerung lockte ein Lächeln auf Nils Lippen. »Vergisst du, wohin sie mich bringen, Parimal?«
»Huzūr …« Parimal senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Nur ein Wort von Ihnen, und die Männer schlagen zurück. Sie könnten entfliehen … sich verstecken …«
Einen schwindelerregenden Moment lang dachte Nil an Flucht, doch dann erinnerte er sich an die Landkarte, die in seinem Daftar hing, und an den roten Fleck des Empires, der sich so schnell darauf ausgebreitet hatte. »Wo sollte ich mich denn verstecken?«, fragte er. »Die Piyadas von Raskhali können doch nicht gegen die Bataillone der Ostindien-Kompanie antreten. Nein, es ist nichts zu machen.«
Nil wandte sich von Parimal ab und ging in seinen Daftar zurück, wo der Major auf ihn wartete, die Hand am Griff seines
Säbels. »Ich bin so weit«, sagte Nil. »Bringen wir es hinter uns.«
Umringt von einem halben Dutzend uniformierter Polizisten stieg Nil die Treppe hinab. Als er auf den Hof hinaustrat, steigerte sich die Klage der weiß gekleideten Frauen erneut zu einem Kreischen, und sie warfen sich auf die Polizisten und versuchten, an ihren Schlagstöcken vorbei zu dem Gefangenen vorzudringen. Nil hielt den Kopf hoch erhoben, aber er brachte es nicht über sich, ihnen in die Augen zu sehen; erst als er am Tor war, drehte er sich noch einmal um. Da fiel sein Blick auf seine Frau Malati, und es war, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Die Schleier waren von ihrem stets verhüllten Gesicht geglitten, und sie hatte die Bänder ihrer Zöpfe gelöst, sodass ihr Haar auf ihren Schultern lag wie ein dunkles Trauertuch. Nil stolperte und schlug die Augen nieder. Er ertrug es nicht, dass sie ihn ansah, es war, als hätte die Entblößung ihres Gesichts den Schleier von seiner Männlichkeit gezogen und ihn nackt und bloß dem geheuchelten Mitleid der Welt ausgeliefert, einer Schande, die er nie würde überwinden können.
Auf der Gasse stand eine geschlossene Droschke bereit, und als Nil sich hineinsetzte, nahm der Major ihm gegenüber Platz. Er war sichtlich erleichtert, weil es ohne Gewaltanwendung abgegangen war, und als die Pferde sich in Bewegung setzten, sagte er in freundlicherem Ton als zuvor: »Ich bin sicher, es wird sich bald alles aufklären.«
Die Droschke gelangte ans Ende der Gasse, und als sie um die Ecke bog, drehte sich Nil auf seinem Sitz um und warf einen letzten Blick auf sein Haus. Er sah nur das Dach der Raskhali-Rajbari und darauf, vor dem dunkelnden Himmel, seinen Sohn, der am Geländer lehnte, als wartete er. Er dachte daran, dass er versprochen hatte, in zehn Minuten zurück zu
sein, und das erschien ihm jetzt als die unverzeihlichste Lüge seines Lebens.
Seit jenem Nachmittag, als Diti ihn gebeten hatte, ihren Mann von der Opiumfabrik abzuholen, hatte Kalua die Tage, an denen ihm ein Blick auf sie gewährt wurde, und auch die leeren Tage dazwischen genau gezählt. Er tat das weder in einer bestimmten Absicht noch aus einer Hoffnung heraus, denn er war sich vollkommen darüber im Klaren, dass es zwischen ihr und ihm allenfalls eine hauchdünne Verbindung geben konnte. Doch das geduldige Zählen lief ohne sein Zutun in seinem Kopf ab, ob er es wollte oder nicht. Es zu beenden stand nicht in seiner Macht; sein Denken, in mancher Hinsicht langsam und schwerfällig, brauchte die Sicherheit der Zahlen. Als er von Hukam Singhs Tod erfuhr, wusste er daher, dass genau zwanzig Tage vergangen waren.
Die Nachricht erreichte ihn zufällig. Es war Abend, und er war mit seinem Karren auf dem Rückweg zu seiner Behausung, als er von zwei Männern angehalten wurde, die zu Fuß unterwegs waren. Sie mussten von weit her kommen, denn ihre Dhotis waren dunkel von Staub, und
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