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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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große Hochachtung vor ihm. Es war daher eine bittere Enttäuschung für ihn, dass diese Wertschätzung nicht im Geringsten erwidert wurde.
    Jodu wusste wohl, dass Flussratten wie er von den hochseeerfahrenen Laskaren verachtet wurden. Oftmals hatte er, wenn er an einem turmhohen Dreimaster vorbeiruderte, aufgeschaut und einen feixenden Schiffsjungen oder Leichtmatrosen gesehen, der ihn als Nussschalen-Admiral verspottete und ihm anzügliche Ratschläge erteilte, was er mit seiner Ruderstange sonst noch alles anstellen könne. Auf Sticheleien war Jodu gefasst, ja, er wäre sogar froh darüber gewesen, aber der Serang duldete keinerlei Vertraulichkeiten zwischen ihm und den anderen Laskaren. Damit nicht genug, machte er ihm bei jeder Gelegenheit klar, dass er ihn gegen seinen Willen in die Mannschaft aufgenommen hatte und ihn sich lieber heute als morgen vom Hals geschafft hätte. Da er sich aber auf Zacharys Anordnung nun einmal mit ihm abplagen musste, teilte er ihn nur für die niedersten Arbeiten ein – zum Fegen, zum Waschen von Gerätschaften, zum Deckschrubben und zum Säubern der Pissoire und Latrinen. Um ihm das Leben zusätzlich zu vergällen, befahl er ihm, seinen jhārū auf die Hälfte zu kürzen: »Je kürzer der Besen«, sagte er, »desto sauberer wird es und desto näher bist du dran – dann siehst du immer gleich, was deine Kameraden gegessen haben.« Am rechten Fuß hatte der Serang einen Zehennagel von einem halben Zoll Länge, den er stets
spitz zufeilte. Wenn Jodu beim Schrubben des Decks auf allen vieren herumkroch, schlich sich der Serang manchmal von hinten an und stieß ihm den Zeh ins Hinterteil. »Mach voran! Tut’s weh, ins Heck gepiekt zu werden? Sei froh, dass dir keine Kanone durch die Stückpforte geschoben wird.«
    Unter Deck durfte Jodu in seiner ersten Woche auf der Ibis nur zum Reinigen der Latrinen. Sogar nachts musste er auf dem Oberdeck schlafen. Das war jedoch nur dann unangenehm, wenn es regnete, was aber nicht oft vorkam. Ansonsten war Jodu keineswegs der Einzige, der nach der »weichsten Planke auf Deck« Ausschau hielt. So freundete er sich mit Roger Cecil David an, einem Schiffsjungen, den die anderen »Raju« nannten. Groß und dünn, hielt sich Raju gerade wie eine Bohnenstange, und seine Gesichtsfarbe war fast so dunkel wie das Teerschwarz der Masten. Da er in christlichen Missionen aufgewachsen war, trug er gern Hemd und Hose und auf dem Kopf eine Stoffmütze. Die lungīs und Kopftücher der anderen Laskaren waren nicht nach seinem Geschmack. Mit dieser für einen Schiffsjungen ziemlich ausgefallenen Eigenheit zog er sich den Spott der anderen zu, zumal seine Sachen aus Segeltuchresten zusammengestückelt waren. Mit einem Wort: Für die anderen war er der dritte Mast des Schoners, ein menschlicher Besanmast gewissermaßen, und seine Vorstöße in die Takelage gaben oft Anlass zu großer Heiterkeit. Die Vortoppmänner rissen ständig Witze auf seine Kosten. Möglichkeiten für anzügliche Wortspiele gab es zuhauf, denn im Gegensatz zu den Seeleuten anderer Länder sprachen die Laskaren von ihren Schiffen oft im Maskulinum und bezeichneten die Masten als deren »Männlichkeit«.
    Raju für sein Teil wäre überglücklich gewesen, wenn er seinen Platz unter den Vortoppmännern hätte aufgeben können, nicht nur wegen ihrer Hänseleien, sondern auch, weil er nicht
schwindelfrei war. Es war sein größter Wunsch, von den Rahen herunterzukommen und als Moses, Smutje oder Steward zu arbeiten, um mit beiden Beinen auf den Decksplanken stehen zu können. Da umgekehrt Jodu sich nichts sehnlicher wünschte, als mit den Vortoppmännern am Schonermast aufentern zu dürfen, überlegten die beiden schon bald, wie sie den Tausch bewerkstelligen könnten.
    Raju führte Jodu den engen Niedergang hinab in die Back, wo die Hängematten der Laskaren hingen. Die Laskaren nannten diesen Raum fanā , womit eigentlich der ausgebreitete Nackenschild einer Kobra gemeint war, denn wenn man sich das Schiff als schlangenartiges Wesen dachte, dann entsprach die Back genau dem fanā – ganz vorn an der Spitze, unter dem Hauptdeck und unmittelbar hinter Vorsteven und Galion. Obwohl er noch nie zuvor ein seetüchtiges Schiff betreten hatte, war Jodu mit dem Wort fanā vertraut und hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, im Inneren des Schädels dieses großen Lebewesens, das sich Schiff nannte, zu wohnen und zu schlafen. Doch der Anblick, der sich ihm jetzt bot, als er die fanā betrat, war durch

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