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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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sie stützten sich schwer auf ihre Stöcke. Als er vorbeifuhr, hoben sie die Hand, und nachdem sein Karren zum Stehen gekommen war, fragten sie ihn, ob er wisse, wo Hukam Singh, der frühere Sepoy, wohne. »Ja, das weiß ich«, sagte Kalua und zeigte die Straße hinunter. Sie müssten zwei kos geradeaus gehen und nach einer großen Tamarinde links abbiegen. Dort müssten sie hundertzwanzig Schritte einem Weg durch die Felder folgen, dann wieder links abbiegen und weitere hundertsechzig Schritte gehen. »Es ist schon fast dunkel, wie sollen wir den Weg da finden?« , fragten die Männer bestürzt. »Haltet einfach die Augen offen«, antwortete Kalua. »Und wie lange brauchen wir?«

    »Eine Stunde, vielleicht auch weniger.«
    Die Männer baten ihn inständig, sie auf seinem Karren mitzunehmen, sonst würden sie zu spät kommen, sagten sie, und alles verpassen. »Zu spät wozu?«, fragte Kalua, und der Ältere der beiden antwortete: »Zu Hukam Singhs Verbrennung und …«
    Bevor er weitersprechen konnte, versetzte ihm sein Gefährte einen kräftigen Stoß mit seinem Stock.
    »Ist Hukam Singh gestorben?«, fragte Kalua.
    »Ja, letzte Nacht. Wir haben uns gleich auf den Weg gemacht, als wir’s erfahren haben.«
    »Na gut«, sagte Kalua. »Steigt auf. Ich bringe euch hin.«
    Die beiden kletterten hinten auf den Karren, und Kalua setzte seine Ochsen mit einem Zügelschnalzen in Bewegung. Nachdem einige Zeit verstrichen war, erkundigte er sich vorsichtig: »Und was ist mit Hukam Singhs Frau?«
    »Mal sehen«, antwortete der Ältere. »Heute Abend werden wir’s vielleicht wissen …«
    Doch wieder unterbrach ihn sein Gefährte, und der Satz blieb unvollendet.
    Angesichts dieser seltsamen Heimlichtuerei fragte sich Kalua, ob hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, über alles, was um ihn herum geschah, gründlich nachzudenken. Während der Karren also die Straße entlangrollte, überlegte er, weshalb die beiden Männer von so weit her kamen, um bei Hukam Singhs Verbrennung dabei zu sein, obwohl sie ihn nicht einmal so gut kannten, dass sie gewusst hätten, wo er wohnte. Und warum fand die Verbrennung beim Haus des Toten statt und nicht am Verbrennungsghat? Irgendetwas stimmte hier nicht, davon war Kalua mehr und mehr überzeugt. Als sie sich ihrem Ziel näherten, sah er, dass noch viele andere dem Ort zustrebten,
mehr als man bei der Bestattung eines Mannes wie Hukam Singh, den jedermann als unheilbaren afīmkhor gekannt hatte, erwarten würde. An seinem Haus angekommen, verstärkte sich Kaluas Verdacht noch, denn der Scheiterhaufen, ein großer Holzstoß am Ufer des Ganges, war nicht nur viel größer, als für die Verbrennung eines einzelnen Toten nötig, sondern auch von zahlreichen Opfergaben und anderen Gegenständen umgeben, als sollte er einem höheren Zweck dienen.
    Inzwischen war es dunkel geworden, und nachdem die beiden Männer abgestiegen waren, pflockte Kalua seine Ochsen ein Stück entfernt auf einem Feld an und ging zu Fuß zu dem Scheiterhaufen. Mehrere Hundert Menschen waren dort versammelt, und aus ihren Gesprächen schnappte er bald ein geflüstertes, gezischeltes Wort auf: »satī «. Da begriff er. Er ging zu seinem Karren zurück und legte sich eine Weile hinein, um zu überlegen, wie er vorgehen sollte. Er dachte langsam und gründlich nach, prüfte die Vor- und Nachteile mehrerer Möglichkeiten. Nur ein Plan bestand die Prüfung, und als er sich wieder erhob, wusste er genau, was zu tun war. Als Erstes nahm er seinen Ochsen das Joch ab und ließ sie frei, sodass sie am Ufer entlang davontrotten konnten. Das war der schwierigste Teil, denn er liebte die beiden Tiere wie Familienangehörige. Dann riss er die Bambusladefläche Nagel um Nagel von der Achse des Karrens und umwickelte sie in der Mitte fest und sicher mit einem Seil. Es war eine große, sperrige Plattform, doch das Gewicht störte ihn nicht; mühelos schwang er sie sich auf den Rücken. Im tiefen Schatten schlich er am Fluss entlang bis zu einer Sandbank, von der aus der Scheiterhaufen zu sehen war. Er ließ die Bambusplattform in den Sand gleiten und legte sich flach auf sie, immer darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden.

    Der Platz um den Scheiterhaufen war von vielen kleinen Feuern erleuchtet, sodass Kalua gut sehen konnte, wie Hukam Singhs Leichnam in einem Trauerzug aus dem Haus getragen und auf den Holzstoß gelegt wurde. Dicht dahinter folgte ein zweiter Zug, und als er den Platz

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