Das mohnrote Meer - Roman
erreichte, sah Kalua, dass er von Diti angeführt wurde. Sie trug einen strahlend weißen Sari, ging aber vornübergebeugt, gestützt von ihrem Schwager Chandan Singh und mehreren anderen; aus eigener Kraft konnte sie sich nicht auf den Beinen halten, geschweige denn laufen. Halb gezogen und halb getragen, wurde sie zu dem Scheiterhaufen gebracht und mit gekreuzten Beinen neben den Leichnam ihres Mannes gesetzt. Sprechgesänge brandeten auf, und um sie herum wurde Anmachholz aufgehäuft und mit Butterschmalz und Öl übergossen.
Auf der Sandbank wartete Kalua den richtigen Moment ab, und um sich zu beruhigen, zählte und zählte er. Das Wichtigste war nun weder Körperkraft noch Behändigkeit, sondern der Überraschungseffekt, denn nicht einmal Kalua konnte fünfzig oder mehr Männer abwehren. Er wartete und wartete also, bis der Scheiterhaufen entzündet war und alle gespannt beobachteten, wie die Flammen um sich griffen. Noch immer im Schatten, schlich er sich schließlich bis an den Rand der Menge und richtete sich auf. Dann stieß er ein Brüllen aus, fasste das Ende des Seils und schwang die schwere Plattform über seinem Kopf im Kreis, so schnell, dass sie nur noch verschwommen zu sehen war. Die scharfen Kanten krachten gegen Köpfe, brachen Knochen und machten einen Weg durch die Menge frei, denn alles flüchtete wie Vieh vor einem wirbelnden Dämon. Kalua raste zu dem Holzstoß, legte die Plattform auf das Feuer, kletterte hinauf und entriss Diti den Flammen. Er schwang sich ihren schlaffen Körper über die Schulter, sprang zu Boden und stürmte dem Fluss zu, das nun
schwelende Bambusrechteck am Seil hinter sich her ziehend. Am Wasser angelangt, schob er es in den Fluss und setzte Diti darauf. Dann stieß er das behelfsmäßige Floß vom Ufer ab, warf sich bäuchlings darauf und steuerte es, mit den Füßen paddelnd, der Flussmitte zu. All das war das Werk weniger Minuten, und bis Chandan Singh und seine Leute die Verfolgung aufnahmen, hatte der Fluss Diti und Kalua schon von dem brennenden Scheiterhaufen fort und ins Dunkel der Nacht getragen.
Das Floß tanzte und drehte sich mit den Strömungen flussabwärts, und ab und zu schwappte Wasser darüber. Unter der Wirkung dieser Güsse lichtete sich der Nebel in Ditis Kopf allmählich, und sie merkte, dass sie sich auf einem Fluss befand und dass ein Mann neben ihr war, der sie mit dem Arm festhielt. Nichts von alldem überraschte sie, denn genauso hatte sie sich ihr Erwachen aus den Flammen vorgestellt: in der Unterwelt, auf dem Fluss Baitarini schwimmend, in der Obhut Charaks, des Fährmannes der Toten. So groß war ihre Angst vor dem, was sie nun sehen würde, dass sie nicht wagte, die Augen zu öffnen. Jede Welle, so stellte sie sich vor, trug sie näher ans andere Ufer, ins Reich des Totengottes Jamaraj.
Nichts deutete jedoch auf ein Ende der Fahrt hin, und so fasste sie sich ein Herz und fragte, wie lang der Fluss und wie weit es noch bis zum Ziel sei. Als keine Antwort kam, rief sie den Namen des Fährmannes der Toten aus. Da vernahm sie ein tiefes, heiseres Flüstern, das ihr kundtat, dass sie noch lebe, dass Kalua bei ihr sei, dass sie sich auf dem Ganges befinde und die Fahrt kein anderes Ziel habe als die Flucht. Doch selbst dann noch schien es ihr, als lebte sie nicht auf die gleiche Weise wie zuvor. Ein seltsames Gefühl stahl sich in ihr Herz, Freude mit Resignation vermischt, denn ihr war, als wäre sie wirklich
gestorben, um gleich darauf in ihr nächstes Leben wiedergeboren zu werden. Den Körper der alten Diti mit seiner Last an Karma hatte sie abgelegt, sie hatte den Preis bezahlt, den ihre Sterne von ihr verlangt hatten, und war nun frei, sich ein neues Schicksal nach ihrem Willen zu schaffen, mit wem es ihr beliebte – und sie wusste, dass dieses Leben mit Kalua gelebt werden würde, bis ein anderer Tod den Körper einforderte, den er den Flammen entrissen hatte.
Ein leises Plätschern und Knirschen war zu hören, als Kalua das Floß am Ufer auf den Sand schob, dann hob er Diti auf seine Arme und setzte sie an Land ab. Er stemmte das Floß hoch und verschwand damit im hohen Schilf, und als er zurückkam, um sie zu holen, sah sie, dass es nun eine kleine, im Ufergrün versteckte Insel bildete. Er legte Diti auf die Bambusfläche und wich dann zurück, als wollte er sich entfernen. Sie begriff, dass er Angst hatte, weil er nicht wusste, wie sie jetzt, da sie in Sicherheit war, auf seine Anwesenheit reagieren würde. Da rief sie ihm zu:
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