Das Mondkind (German Edition)
herumdrücken, durch Zim mer schleichen und die eine oder andere Treppe hinauf- oder hinunterlaufen.
Nanny Sayo sagt, es gibt hier keine Katzen. Sowohl Minos, der Chefbutler, als auch Mrs. Frigg, die Hausdame, stimmen ihr zu: In Theron Hall leben keine Katzen.
Hier werden keine Katzen gefüttert und in dem makellosen Haushalt gibt es keine Mäuse, von denen sich Katzen ernähren könnten. Es sind auch keine widerlichen Anzeichen dafür gefunden worden, dass Katzen hier ihr Geschäft erledigen.
Je mehr die Hausangestellten schon allein den Gedanken an Katzen leugnen, desto größer wird Harleys Entschlossenheit, den Beweis für ihre Existenz zu erbringen. Er hat selbst schon einiges von einer Katze an sich, wenn er verstohlen durch das weitläufige Herrenhaus schleicht und sie aufzuspüren versucht.
Er behauptet, eine von ihnen bei zwei Gelegenheiten beinah geschnappt zu haben. Doch diese schwer zu fassenden Exemplare sind noch flinker als eine Durchschnittskatze.
Er sagt, ihr Fell ist schneeweiß. Ihre Augen sind violett, aber in den Schatten leuchten sie silbern.
Wenn man bedenkt, dass Theron Hall auf seinen drei Etagen und im Keller mehr als viertausend Quadratmeter misst, rechnet sich Crispin aus, sein Bruder könnte sich auf eine Suche nach den Phantomkatzen eingelassen haben, die Wochen, wenn nicht Monate dauern mag oder bis er sein Hirngespinst satt hat.
Um vier Uhr am Nachmittag des 26. Juli hält sich Crispin im Miniaturenzimmer des Hauses auf. Dieser magische Raum befindet sich im zweiten Stockwerk, gegenüber der Suite, in der Jardena, die Matriarchin, in ihrer Abgeschiedenheit verwelkt.
Der Raum hat eine Breite von zehn Metern und ist fünfzehn Meter tief. Der Abstand vom Fußboden bis zur Decke beträgt acht Meter.
Mitten in diesem Raum steht ein Modell von Theron Hall im Maßstab 1:4. Das Wort Miniatur scheint ein wenig unangemessen, da die Maße des gewaltigen Hauses jeweils nur von einem Meter auf fünfundzwanzig Zentimeter verkürzt worden sind. Während Theron Hall von einem Ende bis zum anderen zweiundvierzig Meter misst, beträgt die Gesamtlänge der Miniatur also gut zehn Meter. Das echte Haus ist vierundzwanzig Meter breit und die verkleinerte Version hat eine Breite von sechs Metern. Die viereinhalb Meter hohe Nachbildung ist auf einem Tisch von einem Meter zwanzig Höhe errichtet, der anstelle von Beinen robuste Seitenwände hat.
Das Modell ist eine pedantisch exakte Nachbildung des Herrenhauses, die auf Crispin eine grenzenlose Faszination ausübt. Die Mauern sind aus kleinen Kalksteinblöcken angefertigt, die dünn geschnitten sind, um das Gewicht möglichst gering zu halten, aber trotzdem massiv wirken. Die schmückenden Elemente in den gemeißelten Ziergiebeln der Fenster und in den Einfassungen der Türrahmen sind eine exakte Entsprechung dessen, was sie abbilden. Die Balkone, das reich verzierte Kranzgesims, die Balustrade, die als Brüstung dient, das nahezu flache Dach aus Keramik fliesen, die Kaminaufsätze mit den Bronzekappen – all das ist mit besessener Detailgenauigkeit nachgebaut worden. Die Fens terrahmen sind aus Bronze, die Scheiben aus echtem Glas.
Durch die Fenster kann er Zimmer betrachten, die genauso sind wie in dem echten Haus. Die Miniaturausgabe der Bibliothek ist wie ihr Vorbild mit Regalen und einer Täfelung aus erlesenem Walnussholz ausgestattet. Sogar Möbelstücke und Kunstgegenstände sind von einem Team von Modellbauern reproduziert worden, die Tausende und Abertausende von Stunden daran gearbeitet haben müssen, um diese prachtvolle Reproduktion anzufertigen.
Eine Mahagonileiter mit Handläufen und einem Sicherheitsgurt, die auf Rädern steht und mit einem Einbaumotor versehen ist, führt zu einer ovalen Edelstahlschiene an der Decke, die es einem Betrachter erlaubt, das Modell zu umrunden und auf jeder Höhe in die Fenster hineinzuschauen. An diversen Punkten der Leiter gibt es Steuerungen, mit denen er sie nach links oder rechts bewegen oder sie an jedem gewünschten Aussichtspunkt anhalten kann.
Von Clarettes drei Kindern ist es nur Crispin gestattet, auf die Leiter zu steigen und sie zu bedienen. Andere neunjährige Jungen könnte man für zu jung erachte n, um diese Erlaubnis zu erhalten, aber Crispin ist für sein Alter ziem lich verantwortungsbewusst, vernünftig und besonnen. Er hält sich immer an den Handläufen fest und hakt den Sicherheitsgurt an seinen Gürtel.
Als er die motorisierte Leiter jetzt zur Westfassade bewegt, um in die
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