Das Mondkind (German Edition)
prunkvoll eingerichteten Räume zu lugen, die Jardena bewohnt, fragte er sich – und zwar nicht zum ersten Mal –, warum die alte Frau so viel Geld auf diese Miniatur verschwendet hat, wenn sie sich doch an dem echten Haus erfreuen kann.
Nach Aussage von Giles ist seine Mutter schon immer so exzentrisch gewesen, wie sein verstorbener Vater arbeitsam war. Der Patriarch Ehlis Gregorio war davon besessen, enorme Reichtümer anzuhäufen, und seine Ehefrau fühlte sich dazu bemüßigt, sich immer neue fantasievolle Mög lichkeiten einfallen zu lassen, wie sie das Geld ausgeben konnte. Der Versuch, die Gründe für Jardenas extravagante Schrullen zu verstehen, ist Zeitvergeudung, denn sie versteht selbst nicht, warum sie Dinge wie das Modell von Theron Hall in Angriff nimmt. Giles sagt, sie betreibe solche Projekte einfach nur deshalb, weil sie es sich leisten kann. Das genügt ihr als Grund.
Als Crispin auf der Leiter steht, geht unten die Tür auf und sein Bruder Harley kommt aus dem Flur im zweiten Stock hereingerast. »Crispin, komm schnell! Das musst du gesehen haben.«
»Es gibt keine Katzen«, sagt Crispin. »Mit Ausnahme von denen auf dem Gemälde im Salon, und die sind nicht weiß.«
»Keine Katzen. Mirabell. Du musst dir ansehen, wie sie angezogen ist.«
»Sie kann sich anziehen, wie sie will. Weshalb sollte mich das interessieren?«
»Aber das ist irre.«
»Sie verkleidet sich doch ständig zum Spaß.«
»Aber nicht so«, beharrt Harley. »Mom putzt sie heraus und es ist einfach irre.«
Vor ihrer Ehe mit Giles Gregorio hatte Clarette nie viel Zeit für ihre Kinder. Sie sagt, sie ziehe es vor, mit erwachsenen Männern zu spielen. Kinder sind ihr Geschäft, erklärt sie, keine Freizeitbeschäftigung. Sie tollt nur bei den seltenen Gelegenheiten mit ihnen herum, spielt oder schmust mit ihnen, wenn Wodka und stärkerer Stoff sie in eine alberne oder sentimentale Stimmung versetzen.
Seit der Hochzeit hat sie sich noch weiter von ihnen zurückgezogen. Falls es überhaupt jemanden gibt, der Crispin, Harley und Mirabell richtig großzieht, dann sind es die Hausangestellten von Theron Hall.
»Ich habe Mom sagen hören, wenn sie mit der Anprobe von Mirabells neuem Kleid fertig sind, werden sie sie in warmer Milch baden und mit Aqua pura abspülen, was auch immer das sein mag.«
Von hoch oben auf der Leiter blickt Crispin endlich auf seinen Bruder hinunter. »Das ist allerdings irre.«
»Und es gibt noch anderes irres Zeug wie den Hut, den sie für sie gemacht haben. Du musst mitkommen und es dir ansehen.«
Das Modell des Herrenhauses wird hier für weitere Erkundungen bereitstehen, wann auch immer Crispin zu ihm zurückkehren möchte.
Er steigt auf eine gefahrlose Höhe hinunter, ehe er den Sicherheitsgurt abschnallt und dann die letzten zehn Sprossen hinuntersteigt.
Als Crispin seinem Bruder in den Flur im zweiten Stock folgt, flüstert Harley: »Sie wissen nicht, dass ich sie gesehen habe. Ich glaube, das neue Kleid für den Winzling ist für eine Überraschungsparty oder so was gedacht, und wahrscheinlich sollen wir es vorher nicht sehen.«
Während sie die Hintertreppe hinuntereilen, erklärt Har ley, dass er sich auf der Suche nach den mysteriösen weißen Katzen herumgetrieben hat, wachsam und verstohlen, als er ihre Mutter, Mirabell und ein Hausmädchen namens Proserpina bei ihren seltsamen Aktivitäten antraf.
Unter den vielen Zimmern im ersten Stock sind ein Nähzimmer und eines, in dem Geschenke eingepackt werden. Sie liegen nebeneinander.
Harley führt Crispin leise in das Zimmer, das dem Einpacken von Geschenken dient. Durch das einzige Fenster fällt kaum Licht, weil der Vorhang zugezogen ist.
Von hier aus führt eine Verbindungstür direkt in das Zimmer, in dem Proserpina, die nicht nur Hausmädchen, sondern auch Näherin ist, Kleidungsstücke für die Familie und die Hausangestellten flickt und ändert. Die Tür steht eine knappe Handbreit offen.
Harley kauert sich hin und Crispin beugt sich über ihn, damit sie beide beobachten können, was in dem Nähzimmer vorgeht.
Mirabell steht in dreißig Zentimetern Höhe auf einem Podest, das etwa einen Quadratmeter misst. Ihre Mutter kniet vor ihr und macht sich an dem raffinierten Kragen des Kleides zu schaffen, das ihre Tochter trägt. Proserpina kniet hinter Mirabell und steckt die Taille des Kleides für eine Änderung ab, die sie offenbar vornehmen will.
Es ist kein gewöhnliches Kleid. Der Stoff schimmert, schmiegt sich aber nicht so
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