Das Mondkind (German Edition)
durch eine schlichte Brandschutztür aus Metall wie alle anderen, sondern durch eine kalte Platte Edelstahl, die an einer durchgehenden Laufschiene aufgehängt ist. Sie ist jetzt abgeschlossen, wie sonst auch immer.
Als er mit einem Fingerknöchel an die Tür klopft, klingt das Geräusch so, als könnte diese Tür einem Bataillon von Vorschlaghämmern standhalten, eine Herausforderung, der ein neunjähriger Junge unmöglich gewachsen ist.
Wenn Harley dort drinnen ist, ist er verloren. Crispin legt seine Stirn an den Stahl und überzeugt sich davon, dass der Junge noch nicht in diesem geheimnisvollen Raum ist. Er ist sich sicher, dass er es wüsste, wenn sein Bruder so nah wäre und gewaltsam festgehalten würde; er würde Harleys Verzweiflung doch bestimmt spüren.
Er schaltet die Lichter aus und zieht sich ins Erdgeschoss zurück.
Als er an der Bibliothek vorbeikommt, beschließt er, dass er Hilfe rufen muss. Aber wen soll er anrufen? Giles Gregorio könnte durchaus der reichste Mann auf Erden sein und Clarette sagt, dass er nicht nur mit dem Polizeipräsidenten und dem Bürgermeister befreundet ist, sondern auch mit Königen und Staatsoberhäuptern auf der ganzen Welt. Crispin ist nichts weiter als ein kleiner Junge, der kein eigenes Geld besitzt und außer seinem Bruder keinen Freund hat.
Feuerwehrmänner. Feuerwehrmänner sind tapfer. Sie setzen ihr Leben für andere Menschen aufs Spiel. Vielleicht würde ihm ein Feuerwehrmann glauben.
In der Bibliothek greift er, nachdem er sich vergewissert hat, dass niemand in dem Labyrinth von Bücherregalen lauert, nach dem Telefon, um die Feuerwehr zu rufen. Kein Wählton. Er drückt wiederholt auf die Tasten des schnurlosen Telefons, doch die Leitung bleibt tot.
Er braucht nicht von einem Zimmer ins andere zu gehen und andere Telefone auszuprobieren. Er weiß, dass sie ihm alle nichts n ü tzen w ü rden.
Clarette, Giles und die Hausangestellten haben Handys. Aber Crispin müsste unsichtbar sein, um sich unter sie zu mischen und eines davon zu stehlen.
Bevor sie auf Theron Hall einzogen, hatten sie keine Computer. Aber die, die hier stehen, benutzen sie nie, Mr. Mordred hat es ihnen nicht beigebracht, und Crispin weiß nicht, wie man eine E-Mail sendet.
Aus einem der Regale in der Bibliothek schnappt er sich ein Buch, einen Abenteuerroman für Jungen. Er hat nicht die Absicht, ihn zu lesen, sondern ihn als Requisit einzusetzen.
Er tut so, als sei er in die Geschichte vertieft, während er durch das Haus schlendert, anscheinend im Gehen liest, da und dort Halt macht und sich hinsetzt, denn er hofft, falls ihn jemand sieht, wird er nicht den Eindruck erwecken, auf einer verzweifelten Suche zu sein.
Nach eineinhalb Stunden hat sich Crispin an jeden Ort vorgewagt, zu dem er Zugang hat, ohne einen Hinweis auf Harleys Verbleib zu finden. Er hat sogar den Mut aufgebracht, die Suite seiner Eltern zu betreten, um dort nach ihm zu suchen.
Außer dem Kellerraum hinter der Stahltür sind für ihn nur der Dienstbotentrakt im Erdgeschoss und Jardenas Suite im zweiten Stock unzugänglich. Wenn er glaubte, Jardena könnte außer Haus sein und einen Einkaufsbummel unternehmen, würde er es auch wagen, ihren Herrschaftsbereich zu betreten, aber in Anbetracht der bevorstehenden Feierlichkeiten ist die Matriarchin mit ziemlich großer Sicherheit zu Hause. Und trifft ihre Vorbereitungen.
Er hat den Verdacht, dass Harley weder in Jardenas Suite noch in einem der Dienstbotenzimmer eingesperrt ist. Die Vorstellung, die ihn in den letzten Tagen beschäftigt hat, nämlich dass Theron Hall größer ist, als es den Anschein hat, und dass dieses Haus ständig weiterwächst, bestärkt ihn in der neu gewonnenen Überzeugung, dass es in diesem Haus Geheimgänge und verborgene Zimmer gibt, die er irgendwie finden muss, wenn er seinen Bruder retten will.
Um achtzehn Uhr findet er sich im Esszimmer der Kinder ein, wie es von ihm erwartet wird, und tut so, als läse er am Tisch seinen Roman, als Aralu mit dem Servierwagen hereinkommt.
»Ich weiß nicht, wo Harley ist«, sagt Crispin. »Vielleicht spielt er irgendwo. Er vergisst ja ständig die Zeit.«
»Oh, ich vermute, niemand hat es dir gesagt«, erklärt Aralu, als sie seinen Teller vor ihm abstellt. »Das arme Kerlchen hatte Zahnschmerzen. Deine Mutter hat ihn zum Zahnarzt gebracht.«
»Arbeiten Zahnärzte denn so spät noch?«
»Für das Kind eines Mannes, der so bedeutend ist und derart bewundert wird wie Mr. Gregorio, sind die Leute
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